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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Seidel
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Arbeitstisch und nahm die Feder. Das Blatt lag vor ihr, sie drehte es, bis Platz zum Schreiben war.
    Ja, unser Kuss!, schrieb sie. Der Kuss war es, was sonst? Der Kuss hat uns verbunden; hast du es nicht gefühlt? Sei vorsichtig! Sie jagen dich. Und bitte leiste meinem Vater keinen Widerstand. Ich habe Angst um dich. Bei Sonnenaufgang bete ich, lass uns gemeinsam beten, wo immer wir dann sind, so weit getrennt. Ich denke nur an dich. Du musst leben, leben. – M.
    Sie untersuchte das Papier, am ganzen Körper zitternd, prüfte, wie das Blatt gefaltet worden war. Sie faltete es nach, falzte es geschickt. Das gleiche Flügelding entstand, ein starrer Vogel. Sie küsste ihn ein paar Mal und warf ihn flehend in den Abendhimmel, unter dem dort draußen irgendwo, so hoffte sie, der Liebste stand und auf die Antwort wartete.

25. K APITEL ,
    in welchem schwere Schuld zu Recht die Seele peinigt
     
     
     
    Thomas hasste sich. Zu Hause las und beantwortete er unangenehme, überfällige Korrespondenzen, aß zu viel, stritt lärmend mit Alice, wusch sich öfter als sonst, was er sehr ungern tat, weil er kaltes Wasser auf der Haut nicht mochte. Alles, um sich abzulenken, von sich selbst, von seinen bitteren Gedanken, Ahnungen und Selbstgesprächen. Er sah John Whisper im Verlies vor sich. Er sah die Wunden, die man ihm zufügte, sah, wie er blutete, hörte, wie er stöhnte, um Gnade winselte, endlich die Besinnung verlor und wieder zu sich kam, um das Martyrium von neuem zu erleiden.
    Es war das Mitgefühl, die Empathie, die Gott ihm, Thomas, in die Seele legte, um ihn genauso schwer zu prüfen wie der Blutknecht diesen Whisper. Die verdammte Anteilnahme war das unsichtbare Gift, das ihm die Ruhe raubte. Die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen zu versetzen, zu fühlen, was er fühlen mochte, zu denken, was dem anderen im Kopf herumging. Dazu war kein Vieh fähig, sondern nur der Mensch; so hatte Gott den Menschen ausgestattet: mit innerem Bilderreichtum, mit Hass und Liebe. Vor allem Hass!
    Er schüttelte sich angeekelt. Seine Christenpflicht wäre es gewesen: sich vor dem eigenen Hass zu Tode ekeln. Erst war der Ekel, dann der Hass. Der Ekel vor dem Dinglichen, vor jedem Tier, lebendig oder tot. Ekel vor der eigenen Haut und was darunter war. Dieser Ekel raubte ihm die Kraft zur Liebe.
    Und es lohnte nicht, den Kerl zu retten: Johan Whisper, diesen Schwätzer und Verführer! Er sollte besser tot sein. Aber ach und weh!, musste Gott ihn, Thomas, nicht dafür verachten?
    Er betete, er bettelte um Gnade. Vergeblich. Dass er nicht beten konnte, war Gottes Strafe. Wenn morgen auch sein Glaube auseinander brach wie trockener Ton, dann war es überdeutlich, dass seine Zeit gekommen war, dass er zu alt war, zu schwach. Er weinte, er fraß Gras zur Buße und schlich noch vor dem Abendgrauen in die Stadt, zum Newgate Prison, stieg in den Keller, schlug einem Wächter, der ihn ansprach, ins Gesicht, schmiss Blechgeschirr umher, Eimer voller Unrat. Die Gerichtsbüttel flohen vor ihm, lugten ängstlich um die Ecken. Nur der Carnifex, der Henker mit der blutverschmierten Lederschürze, blieb unweit stehen und schielte her. Es war höllendunkel, ein paar Laternen brannten und es stank grässlich nach allem Dreck der Welt.
    Tausend verborgene Stimmen machten einen fernen, undurchdringlichen Lärm, der niemals endete; durchschnitten wurde er von Pfiffen, Schreien und Gesängen.
    Womit er kämpfte, war die Entscheidung, jetzt entschlossen hinzugehen und seine Macht zu zeigen: den Gefangenen Whisper zu erlösen. Aber würde der Knochenbrecher nicht gleich an alle Welt ausplaudern, der mächtige Morland sei korrupt, als Mensch ein Weichling? Und was würde Johan tun, wenn er die Misshandlung überlebte? Die Wahrheit über Jane Colt würde mit ihm weiterleben, könnte an des Königs Ohr gelangen oder gar an Margarets, was noch schlimmer wäre. Die Wahrheit nämlich: dass er Jane damals geschlagen hatte, weil sie faul und blöde war. Und er hasste Trägheit.
    Tochter Margaret war da anders, ehrgeizig, dass es manchmal schon zu viel war und man sie zügeln musste, so wie jetzt. Dabei war sie anschmiegsam, jedenfalls gewesen, er war sicher, dass die Veränderung erst begonnen hatte, seit Andrew Whisper nach ihr jagte. Der eines Tages im Hof von Old Barge erschienen war, mit einer hohen Kiepe voller sündhaft teurer Bücher, die er, Thomas, sich hatte schicken lassen.
    Margaret war, ganz zufällig, fast zeitgleich eingetroffen, stieg aus ihrer

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