Die Seelenpest
Miss Margaret«, unterbrach sie Gills, »hat mich gebeten, ihm einen anwaltlichen Brief zu schreiben, eine gerichtliche Notiz, in der ich ihm bestätige, dass das Verhör des Johan Whisper in aller Ordnung vorgenommen wurde.«
Margaret sah ihn verwundert an.
»Verstehen Sie?«
»Nein.«
»Der Vater dieses jungen Mannes ist gestorben. Er ist tot.«
Margaret blickte auf den Boden, dann auf ihre Hände, wie sie zitterten. »Wieso denn tot?«
»Weil man ihn in Newgate Prison erschlagen hat«, sagte Andrew dumpf.
»Mein Vater…?«
»Ganz sicher nicht er selbst mit seinen eigenen Händen, Miss Margaret«, erklärte Gills.
»Wer denn?«
»Die Knechte dort.« Gills hustete.
»Und der da«, sagte Andrew und deutete auf Gills, »hat diese amtliche Gerichtsnotiz geschrieben, die deinen Vater wohl vor aller Welt entlasten sollte…«
»Vorhin noch hat mein Vater mir gesagt, dass er deinen Vater aus prinzipiellen Gründen nicht befreien könne…«
»Wem willst du also glauben, Margaret?«, fragte Andrew. »Jetzt darfst du sogar raten, welchen Preis der Anwalt Gills von deinem Vater für das ordentliche Schreiben forderte!«
Sie wurde bleich.
»Genau. Kein Geld, das braucht er nicht. Er wollte dich von ihm und hat dich wohl bekommen…«
»Ihr Vater hat es angeboten!«, rief Gills empört. »Von sich aus, ich hätte niemals…«
»Sei bloß still!«, schrie Andrew und drohte ihm.
Margaret stand zitternd da. Die Tränen tropften ihr vom Kinn.
»Es tut mir Leid«, sagte Andrew schließlich leise. »Alles. Ich hätte es am liebsten ganz verschwiegen. Aber als Gills mir gestern alles sagte, wurde mir klar, dass mich die ganze Last trifft, obwohl ich nichts verbrochen habe. Clifford hat mich aus der Stadt gelockt und wollte mich im Dunkeln mit einem Schwert erschlagen. Er hat den Hund getroffen. Ich hab mich nur gewehrt. Clifford erklärt jetzt überall das Gegenteil. Du kannst dir denken, wem man glaubt. Ich bin jetzt vogelfrei.«
Margaret nahm seine Hand in ihre beiden Hände und drückte sie. »Lass bitte William Gills frei, bevor alles nur noch schlimmer wird!«
Er schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Wir wissen, dass Aron Boggis mit Clifford gemeinsame Sache macht. Wir wissen, dass er diese Briefe schreibt, die man bei den toten Schülern fand. Aber Boggis hat viel Einfluss, er hat sich bei deinem Vater eingeschlichen, der bestimmt nicht einmal ahnt, was dieser Mann im Schilde führt. Ich hab nichts zu verlieren…«
»Oh doch!«, rief Margaret. »Was du Gills antust, das tust du mir an, weil ich dich dabei verlieren werde.«
»Dein Vater lässt uns nicht zusammen sein.«
»Wenn ich ihn zwinge, schon.«
»Und wie?«
»Das lass nur meine Sorge sein.« Sie hatte aufgehört zu weinen. Ihr Mund war hart geworden. Sie ließ Andrews Hände los. »Ich nehme Mister Gills mit mir nach Hause. Du wirst dich verstecken, bis ich mich bei dir melde. Mein Vater ist im Grunde seines Herzens gut.«
Andrew stand leicht vorgebeugt da. Er war erschöpft. Man sah ihm an, dass er erleichtert war. Er nickte. Dann setzte er sich hin. Er gab Charles ein Zeichen, der ging zu Gills und löste ihm die Fesseln von den Händen und den Füßen. Es schmerzte sehr, da waren dunkle Striemen auf der Haut entstanden. Der Anwalt stöhnte schwer und konnte kaum mehr laufen. Charles und Margaret griffen seine Arme und stützten ihn, so gut es ging.
35. K APITEL ,
worin ein Vater seine Tochter nicht mehr kennt
Die Atheismuskommission war ein zweites Mal um jenen großen Eichentisch versammelt. Bischof Reed mit übler Laune, Walter Skinner, Sprecher und Sekretarius des Bürgermeisters, dann Julian Pinchbeck, der mehr mit seinem neuen Gehrock beschäftigt schien als mit der Seelenpest, und diesmal Doktor Peter Furges als Vertreter des New Inn.
Thomas führte wie beim ersten Mal den Vorsitz. Wieder unwillig, mutlos, wütend auf sich selbst und unsicher, wie er diese Meute zur Ordnung zwingen sollte. Unsicher auch darüber, ob er es überhaupt wollte – ob er wirklich wissen wollte, was genau hinter den Vorfällen um die unseligen Schüler steckte. Ob es nun Selbstmorde waren oder etwa doch ein unaussprechliches Verbrechen. Wenngleich – da hatte Reed wohl Recht – auch der Suizid ein christliches Verbrechen war! Und dennoch: Die Opfer waren eigentlich noch Kinder! Man sollte Mitleid haben und Verständnis. Nein, doch wieder nicht. Denn mussten nicht auch Kinder schon begreifen können, wie kostbar ihre Existenz ist und
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