Die Seelenquelle
sehr wie an der körperlichen Anstrengung, die ihn zum Schwitzen brachte.
Oben auf dem Hügel hielt er an und blickte sich um. Die Häuser in dem Viertel waren auf merkwürdige Weise fehl am Platz: Es handelte sich um weitläufige hölzerne Bungalows nach englischer Art – mit steilen Dächern, tiefgelegenen Dachvorsprüngen und großen Veranden, die rund ums Haus verliefen. Sie waren in diesem Stil für Familien von europäischen Geschäftsmännern und Bürokraten gebaut worden, die an der Ausbreitung von Vororten gewöhnt waren. Die Gebäude waren weiß gestrichen und mit einem roten Rand versehen. Als Zugeständnis zum Klima und zur Landessitte wurden die meisten Veranden und Fenster von geflochtenen Bambusblenden abgeschirmt. Er hatte noch nie Hana-Li getroffen, doch er besaß ihre Hausnummer, und außerdem war sie als Witwe eines angesehenen Regierungsbeamten stadtbekannt.
Als er durchgeatmet hatte, ging er weiter. Er betrat einen breiten, von Bäumen gesäumten Boulevard, wo die Häuser größer waren und in einiger Entfernung von der Straße standen. Vor ihnen befanden sich grüne Rasen, die von Blumenbeeten und Zierbüschen unterbrochen wurden; und barfüßige Gärtner, die breite Strohhüte trugen, pflegten die Anlagen. Zum Schluss gelangte er zu einem eisernen Pfosten, der am Ende eines kurvenreichen Zufahrtsweges stand. An dem Pfosten war ein Schild befestigt, auf dem mit goldener Farbe die Nummer dreiundvierzig gemalt war. Einen Augenblick lang stand Charles nur da und betrachtete das weitläufige Haus; er fragte sich, ob er wohl da drinnen willkommen sein würde. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Charles spazierte die Auffahrt entlang und stieg die Stufen zur Veranda hoch. Neben der Tür gab es einen Glockenstrang, an dem er zog, erst einmal und dann erneut. Er wartete, bis er auf der anderen Seite der schweren Holztür das rasche Getrappel von Sandalen hörte. Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf ein hübsches junges Mädchen mit langem schwarzem Haar. Es trug ein schlichtes weißes Hemdkleid und einfache Hausschuhe aus Seegras.
»Hallo«, grüßte Charles und lächelte. »Ich bin gekommen, um Hana-Li zu sehen. Ist sie zu Hause?«
Ob seine Worte irgendeinen Eindruck bei der jungen Frau hinterließen, war an ihrem Gesichtsausdruck nicht zu erkennen.
»Sprechen Sie Englisch?«, erkundigte sich Charles.
Sie runzelte die Stirn. Dann wandte sie sich abrupt von ihm ab und trippelte davon; die Tür ließ sie allerdings geöffnet. Charles blieb auf der Schwelle stehen und starrte in das dunkle Innere eines weiträumigen Vestibüls hinein, das von stehenden grünen und blauen Porzellantöpfen gesäumt wurde. Er klopfte leicht auf das Päckchen unter seinem Hemd und wartete.
Nach einem Augenblick erschien eine alte Frau. Ihr taubengraues Haar war zu einem Knoten hochgebunden, unter dem ein rundes Gesicht, das wie eine Walnuss gerunzelt war, einen Ausdruck von leichter Neugierde zeigte. Offenbar fragte sie sich, was da vor der Haustür gestrandet war. Ihr Gewand war abgenutzt und verblichen, und sie hielt ein Staubtuch in der Hand.
Charles, der die Alte für die Haushälterin hielt, wiederholte seine einleitenden Worte. »Ich bin gekommen, um Hana-Li zu sehen. Ist die Dame zu Hause?«
»Sie ist zu Hause«, antwortete die Frau im bedächtigen Kolonial-Englisch mit einem pfeifenden Lispeln. »Wer wünscht sie zu sehen?«
»Meine Name ist Charles Flinders-Petrie«, erwiderte er. »Ich bin der Großneffe der ehrenwerten Dame.«
»Neffe?«, fragte die alte Frau verwundert.
Charles zeigte ein beruhigendes Lächeln. »Meine Großmutter Xian-Li war ihre Schwester«, erklärte er. »Sie ist meine Großtante.«
Die Frau hielt inne, um darüber nachzudenken; ihre scharfen dunklen Augen blickten diesen fremden kühnen Ausländer skeptisch an.
Unter diesem prüfenden Blick wurde es Charles unbehaglich. »Lebt Hana-Li hier?«, fragte er schließlich. »Darf ich sie sehen?«
Als ob sie über ihn zu einer Entscheidung gekommen wäre, drückte die alte Frau die Tür noch weiter auf und trat zur Seite. »Bitte, kommen Sie herein.«
»Danke schön.« Charles betrat den Eingangsraum, in dem es dunkel war. Auf dem Boden lag ein roter Läufer aus Seide, und zwei Palmen in Töpfen standen am Eingang zum Wohnzimmer.
Die alte Frau zeigte auf den Raum. »Bitte, setzen Sie sich doch«, forderte sie Charles auf.
Aus den zur Verfügung stehenden Sesseln wählte er ein Rattan-Modell mit niedriger
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