die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
auf sich warten lassen.”
Rhia sah den Falken an, wie auch viele andere Dorfbewohner es taten. Galen machte keine Anstalten, zu sprechen, er hörte sich einfach nur die Argumente um sich herum an. Es schien ungefähr gleich viele Stimmen aufseiten der Befürworter zu geben wie aufseiten jener, die dagegen waren.
Rhia verstand die Verlockung, Macht zu mehren. Sie gab es schon genauso lange, wie ihr Volk die Magie der Tiere besaß. Die Geister jedoch verboten es. Selbst jene wie Marek, die die Regeln unabsichtlich brachen, hatten unter den Folgen zu leiden. Wenn ein Mensch – oder ein ganzes Dorf – nur deswegen Kinder zeugte, um Macht zu gewinnen, dann ...
Aber in einer verzweifelten Situation hingen vielleicht ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Art zu leben von dieser Macht ab. Vielleicht würden die Geister ihnen deshalb vergeben.
Die Diskussion dauerte noch mehrere Minuten an, und Galen saß immer noch schweigend da. Schließlich warteten mehr Leute darauf, ihn sprechen zu hören, während andere Leute selbst etwas sagen wollten, und die Menge verstummte.
Galen stand auf und erwiderte den Blick von jedem Einzelnen, ehe er sich an die Versammlung wandte. „Danke für eure Aufmerksamkeit. Der Vorschlag beunruhigt mich, um es milde auszudrücken. Ihr habt wohlüberlegte, wohlmeinende Argumente für beide Seiten gehört. Wenn ihr darauf wartet, dass ich euch sage, was ihr tun sollt, muss ich euch, fürchte ich, enttäuschen. Die Entscheidung, Mutter oder Vater zu werden, kann nicht einem Erlass des Rates unterliegen. Es liegt an euch, euch und eurem Partner ... und eurem Geist. Hört auf eure Herzen, und fragt euren Geist, ob ihr die Weisheit besitzt, die neuen Gaben und die neue Verantwortung des Elterndaseins meis369
tern zu können. Zu schnell voranzuschreiten kann schreckliche Folgen für den Einzelnen haben, aber auch für die Gemeinschaft.”
Galen schloss: „Wir treffen uns wieder, wenn die Späher zurückgekehrt sind. Bis dahin haben die Krieger ihre Befehle. Alle anderen ...”, deutlich standen ihm die Besorgnis und die Trauer ins Gesicht geschrieben, „... macht euch bereit.”
Als die Menge nach draußen strömte, die Letzten zuerst, erhaschte Rhia einen Blick auf Dorius, den Bruder von Galen. Sie erinnerte sich an ihre Vision seines Todes, seinen blutenden Körper, der sich unter goldenen Eichen wand. Bedeutete das, die Nachfahren würden nicht vor dem Herbst einfallen? Oder würde der Krieg bis dahin andauern, und Dorius kam erst in einer späteren Schlacht oder einer anderen Auseinandersetzung ums Leben?
Sie rieb sich die Stirn, als könnte sie sich damit beruhigen. Soweit sie wusste, konnte die Vision sich auch auf ein Ereignis beziehen, das erst im kommenden Jahr stattfinden würde – oder auch erst im Jahr darauf. Sie hatte Dorius’ Gesicht nicht deutlich genug gesehen, um sein Alter abschätzen zu können, und da Schmetterlinge länger als alle anderen ihr jugendliches Aussehen behielten, konnte sein Tod auch erst in mehreren Jahren eintreten.
Ungeachtet dessen sollte sie Galen davon erzählen. Aber er hatte ihr verboten, von ihren Visionen vom Tod eines anderen zu sprechen.
Alanka legte eine Hand auf Rhias Knie. „Du hast kein Wort von Marek gesagt, seit wir Kalindos verlassen haben.” Auch wenn sie nicht allein waren, der Lärmpegel in der Halle erlaubte ihnen eine private Unterhaltung. „Ich würde die Hoffnung nicht aufgeben. Er kann noch kommen. Sie könnten alle noch kommen.” Alankas Stimme wurde schärfer. „Und wenn nicht und wir diese Schlacht verlieren, mögen ihnen ihre erhabenen Bäume auf den Kopf fallen.”
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Einige Nachmittage später hielt Rhia sich im Hundezwinger auf und zeigte Alanka, wie man die Hunde bürstete, als plötzlich Areas auf der Spitze des Hügels auftauchte.
Alanka stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen. „Glaubst du, er will, äh, seine Macht mit dir erweitern?”
Rhia seufzte. Selbst wenn Marek nie wiederkam, selbst wenn er tot war oder sich entschlossen hatte, zu bleiben und Kalindos zu verteidigen, ertrug sie den Gedanken an die Hände und den Duft eines anderen Mannes auf ihrem Körper nicht. Nicht für Areas, nicht einmal für Asermos. „Ich könnte es nicht.”
„Ich weiß.” Aus der Ferne betrachtete das Wolfmädchen Areas genauer. „Wenn du ihn nicht haben willst, muss es doch andere Frauen geben, die ihn wollen.”
„Erinnere mich nicht daran.”
Als Areas näher kam, sprangen die Hunde gegen den Zaun, um ihn zu
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