die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Himmel erstreckte. Rhia schloss die Vorhänge am Fenster und fragte sich, ob das der letzte Anblick der Außenwelt gewesen war, den ihre Mutter jemals sehen würde. Nein, dachte sie. Sie soll den Sonnenaufgang sehen, selbst wenn man sie nach draußen tragen muss.
Sie wandte sich wieder dem Tisch zu, wo ihre Brüder und ihr Vater schweigend beisammensaßen. Es wäre großzügig, die Mahlzeit vor ihnen als halb verzehrt zu bezeichnen, das Essen auf den Tellern war eher neu geordnet als verspeist worden.
Silina saß bei Mayra und beobachtete ihren Atem. Sie hatte angeboten, sich um Mayras körperliche Bedürfnisse zu kümmern, damit die Familie sich um die eigene Trauer kümmern konnte.
Rhia fragte sich, ob Silinas Hilfe es für sie nicht noch schwerer machte. Ihnen blieb nichts, als einander anzusehen. Sie hatten vorgehabt, sich abwechselnd zu Mayra zu setzen, während die anderen schliefen, aber Rhia hatte den Verdacht, dass nur ihre Mutter in dieser Nacht Schlaf finden würde.
„Sie ist wach”, zerschnitt Silinas sanfte Stimme das Schweigen, so als hätte sie geschrien und nicht geflüstert.
Die drei Männer standen auf. Lycas und Nilo setzten sich wieder und zollten damit ihrem Stiefvater grollend Respekt. Tereus trat an Mayras Seite.
Silina näherte sich dem Fenster, wo Rhia stand. „Sag mir, wie ich helfen kann. Ich könnte die Hunde füttern oder die Pferde oder Wasser holen.”
„Das ist alles erledigt”, beteuerte Rhia. „Wir haben schon mehrmals nach den Tieren gesehen. Es gibt nichts zu tun, außer zu warten.”
Silina sah über die Schulter zu Lycas und Nilo, die am Tisch vor sich hin grübelten. „Ich denke, die Familie könnte andere Dinge tun, außer zu warten.” Sie nahm eine Laterne und schlüpfte nach draußen.
Rhia dachte über ihren Rat nach. Uber ein Jahr war vergangen, seit sie das letzte Mal einen Abend mit ihren Brüdern verbracht hatte. Sie setzte sich an den Tisch neben Nilo.
„Erzählt mir eine Geschichte”, bat sie die beiden.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sahen sie einander an. Lycas sagte: „Wir kennen keine Geschichten, die, na ja ...”
„Passend wären”, vollendete Nilo den Satz.
„Es ist mir egal, ob sie passen oder nicht. Erzählt mir eine der Geschichten von der Jagd mit Rhaskos.”
Nilos Lippen drohten sich zu einem Lächeln zu verziehen. Jetzt?”
„Sie bringen dich zum Kichern”, sagte Lycas zu Rhia.
„Ich weiß.”
Er blickte in Richtung ihrer Mutter. „Glaubst du wirklich ...”
„Ich glaube, sie würde ihre Kinder hebend gern wieder zusammen lachen hören.”
„Wenn es sein muss.” Nilo beugte sich vor und machte eine dramatische Pause. „Wie du dich vielleicht erinnerst, ist Rhaskos, der Ziegenmann, etwas weniger intelligent als der durchschnittliche Jagdhund.”
„Etwas?”, fragte Lycas. „Du beleidigst unsere Hunde.” „Schäm dich.” Rhia setzte eine ernste Miene auf. „Für diese Beleidigung musst du ihren Zwinger morgen zweimal reinigen.”
Nilo hob die Hände. „Etwas weniger intelligent als die durchschnittliche linke Afterkralle eines Jagdhundes. Besser?”
„Dir sei vergeben.” Rhia blickte zu ihrer Mutter. Das Kerzenlicht warf verzerrende Schatten auf ihr Gesicht, aber sie glaubte, Mayra lächeln zu sehen.
„Auf jeden Fall”, fuhr Nilo fort, „sind wir eines Tages jagen gegangen, nachdem Rhaskos in der Nacht zuvor ein wenig zu viel Bier genossen hatte.”
„Er war nicht direkt verkatert”, fügte Lycas hinzu. „Er war immer noch betrunken. Verstehst du, er lebte in dem Glauben, dass es egal ist, wie viel man trinkt, solange man danach schläft. Selbst nach einer Stunde wacht man nüchtern wieder auf.”
Nilo lachte in sich hinein. „Er glaubte, an einem neuen Tag wäre man auch ein neuer Mensch. Sein Körper sah das allerdings anders.”
Sie fuhren mit der Geschichte fort, und Rhia half ihnen immer wieder, wenn sie Details vergaßen. Die drei nahmen sich vom kalten Brot, das vor ihnen lag, und vom Fleisch, bis fast alles Essen verzehrt war.
Endlich stand Tereus auf und trat an den Tisch. Er sah die Zwillinge an. „Sie möchte mit euch sprechen. Mit Lycas zuerst.”
Das war nur zu verständlich, Lycas war ein paar Stunden älter und wurde deshalb immer als der ältere Zwilling behandelt. Das bedeutete, Rhia kam zuletzt. Sie starrte angespannt zu Boden und betete zu Krähe, dass ihre Mutter lang genug wach sein möge, um noch mit ihr zu sprechen.
Tereus’ Körper fiel schwer auf den Stuhl neben
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