die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
Rhia. „Papa, warum gehst du nicht schlafen?”, fragte sie ihn. „Wir können dich wecken, falls ... wenn sie ...”
Er berührte die Wange seiner Tochter. „Nein, ich bleibe wach. Ich kann mir nicht vorstellen, einen dieser Augenblicke zu verschlafen.”
„Aber es könnte noch Tage dauern.”
„Bald genug muss ich ohne sie aufwachen. Ich will noch nicht damit anfangen.”
Aus Mayras Ecke kam ein ersticktes Schluchzen. Sie sahen hinüber, wo Lycas über den Körper ihrer Mutter gebeugt saß. Tereus ließ Rhias Hand fallen und beeilte sich, zu ihnen zu eilen.
„Ist schon in Ordnung.” Lycas stand auf und wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. „Du bist dran, Nilo.”
Nilo nahm den Platz seines Bruders an Mayras Seite ein. Lycas kehrte zum Tisch zurück und setzte sich, die Ellenbogen aufgestützt, das Gesicht in den Händen vergraben. Rhia spürte, wie eine kaum gezähmte Wut von ihm ausging, und verstand zum ersten Mal, wie gefährlich er sein konnte. Selbst mit den Gaben seiner ersten Phase konnte er einen Menschen in wenig mehr als einem Augenblick und ohne dazu eine Waffe zu benutzen umbringen. Die Adern auf seinem Handrücken traten hervor, als er die Fäuste ins lange schwarze Haar schob. Sie rückte ein Stück von ihm ab.
Als er wieder aus seiner Zornesflut auftauchte, schenkte Lycas Rhia einen Blick, der ihre Seele zu zerreißen drohte. Sie wusste, in diesem Augenblick empfand ihr Bruder für sie nur Hass. Ihr wurde übel.
„Ich werde nachsehen, ob Silina Hilfe braucht bei ... bei was auch immer sie gerade tut.” Ihr Stuhl fiel fast um, als sie aufstand.
Sie musste mehrmals gegen den Riegel schlagen, ehe er nachgab und die Tür sich öffnete. Als sie sich hinter ihr schloss, lehnte sie sich gegen das Haus und atmete die schale feuchte Luft ein, die sich in den letzten Stunden herniedergesenkt hatte. Grillen und Heuschrecken sangen verhalten, also war die Nacht noch nicht weit vorangeschritten. Es glühte aber auch kein Schimmer mehr am westlichen Horizont. Der Nebel des späten Sommers verbarg alle bis auf die hellsten Sterne, und der untergehende Halbmond spendete hinter den Bäumen westlich von ihr nur trübes Licht.
In der Nähe der Scheune wurde eine Laterne sichtbar. Silina rief ihren Namen, und Rhia hob zur Antwort schwach die Hand.
Die Schildkrötenfrau hielt einen Korb auf ihren ausladenden Hüften, als sie sich näherte. „Ich habe getrocknete Kamillenblüten in der Kräuterhütte deiner Mutter gefunden. Sie werden ihr helfen zu entspannen.” Das Licht der Laterne glühte in ihren grauen Haaren, die die Zahl der braunen auf ihrem Kopf übertrafen. „Ich wünschte, ich könnte mehr tun.”
„Ich auch. Ich meine, ich wünschte, ich könnte mehr tun.” Silina stellte ihren Korb hin und umarmte sie. Die Wärme der Heilerin und der Duft der Kamille schafften es tatsächlich, Rhia für einen Augenblick zu beruhigen.
Die Tür öffnete sich, und mit undurchdringlicher Miene forderte Nilo sie auf: „Du bist dran.”
Sie löste sich aus Silinas Umarmung. „Danke”, sagte sie zu ihm, als sie in der Tür an ihm vorbeiging. Er antwortete nicht.
Als sie sich neben Mayra setzte, spürte Rhia wieder das Gewicht der Krähe auf ihr, doch sie schob dieses Gefühl in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins.
„Bist du heute bei Areas gewesen?”, fragte ihre Mutter, und ihre Stimme klang rau.
Ja.”
„Und?” Ihre Mutter schien beinah zu lächeln.
Rhia errötete. Es schienen Wochen und nicht erst Stunden vergangen zu sein, seit sie und Areas sich auf der sonnigen Lichtung geliebt hatten. Ihr wurde übel, als ihr klar wurde, dass sie sich wahrscheinlich genau in dem Augenblick vereinigt hatten, als ihre Mutter den Anfall erlitt.
Mayra drückte Rhias Hand. „Mach nicht so ein Gesicht. Es ist nicht deine Schuld, dass es passiert ist.”
„Ich hätte bei dir sein sollen.”
„Das hätte auch keinen Unterschied gemacht. Ich kann nicht mehr gerettet werden. Meine Zeit ist gekommen. Also, war es mit Areas so, wie du es dir vorgestellt hast?”
Rhia betrachtete die Wand über Mayras Kopf. „Es war besser. Und auch schlechter.” Um ein wenig vom Thema abzulenken, fügte sie hinzu: „Ich werde ihn vermissen, wenn er fortgeht.”
Mayra runzelte die Stirn. „Es tut mir leid, Rhia. Ich hätte dich in den Wald schicken sollen, als Galen zum ersten Mal darum gebeten hat. Ich hatte Angst.”
„Das war meine Entscheidung. Ich hatte auch Angst.” „Ich hätte dich aus dem Nest
Weitere Kostenlose Bücher