Die Seelenzauberin - 2
Sturm von Emotionen prasselte auf ihre Seele nieder, eine magische Angriffswelle nach der anderen schlug ihr entgegen. Hunger. Schmerz. Angst. Sie verbot sich, auf etwas anderes zu achten als auf ihren Körper und den Flecken schwarzer Erde vor ihren Füßen. Wenigstens war der Boden hier fest; man musste den Göttern auch für kleine Gaben danken. Nach tagelangen Ritten über Berge und durch Flüsse war ein tragfähiger Untergrund wahrer Luxus.
Die Zeit hörte auf zu existieren. Die Stimmen ebenfalls. Aethanus hatte sie gelehrt, sich in sich selbst zurückzuziehen, um sie auf den Tag vorzubereiten, an dem ihre Translatio solche Fähigkeiten erfordern würde. Nun setzte sie das Erlernte hier ein. Phantomschmerzen jagten durch ihren Körper, aber sie wusste, dass sie nur Illusion waren, und beachtete sie nicht. Schemenhafte Gestalten in schwarzen Roben wollten sie mit ihren Zauberkräften fesseln, aber sie tat so, als wären sie nicht da. Ihr eigener Magen krampfte sich unter den Qualen einer Kreatur zusammen, die irgendwo verhungerte; sie setzte unerschütterlich einen Fuß vor den anderen und achtete ausschließlich darauf, das Gleichgewicht zu halten. Der Heilige Zorn durfte sie nicht überwältigen, denn wenn sie jetzt stürzte, war keineswegs sicher, ob sie wieder aufstehen könnte.
Dann endlich hatte sie die Säule erreicht und machte sich an den Aufstieg. Ihre Hände waren blutüberströmt, als sie oben ankam, aber sie wusste nicht mehr, wo sie sich verletzt hatte.
Ein Blick auf Rhys, und sie war tief erschüttert. Was hatte sie erwartet? Entsetzen in den Augen oder vielleicht den unheimlich leeren Blick eines von höheren Mächten Besessenen? Was sonst könnte einen Mann wie ihn so überwältigen, dass er zu nichts mehr fähig war?
Tränen.
Sie sah Tränen.
Langsam streckte sie die Hand aus und berührte seine nasse Wange. Er fuhr zusammen, als hätte sie ihn aus tiefer Versenkung gerissen, ergriff ihre Hand und umfasste sie so fest, dass es schmerzte.
»Schaut hinein!«, krächzte er. »Und sagt mir, was Ihr seht!«
Sie beugte sich vor und spähte in das dunkle Innere des Speers. Zuerst konnte sie nichts erkennen, sie sah nur, dass der Raum offenbar eine regelmäßige Form hatte – ein Zylinder, der mit einer Kuppel abschloss – und dass die Wände über und über mit Runenzeichen bekritzelt waren. Die Schrift kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, wo sie sie schon gesehen hatte.
Dann hatten sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt, und sie konnte sehen.
Im Inneren lag eine Mumie. Ursprünglich hatte man wohl einen lebenden Menschen in diesem Zylinder eingemauert, aber nach Jahrhunderten in der kalten, trockenen Gebirgsluft war die Haut dunkel wie Baumrinde und spannte sich straff über spitze Knochen. Haltung und Mimik verrieten überdeutlich, unter welchen Umständen der Tod gekommen war.
Kamala wandte sich ab und schaffte es gerade noch, sich über den Rand der Säule zu beugen, bevor sich ihr der Magen umdrehte.
Der Mund war im Todesschrei erstarrt; das war seine letzte Äußerung gewesen; die vertrockneten Arme waren ausgestreckt, als wollten sie gegen die Wände des Gefängnisses hämmern. Die Finger … die Fingerspitzen waren wie zerfleischt, blutig geschürft, weil ihr Besitzer verzweifelt versucht hatte, sich den Weg in die Freiheit zu graben. Doch dieses Gefängnis hatte weder Tür noch Fenster. Es gab kein Entrinnen! Wer immer der Mensch gewesen war, man hatte ihn langsam verdursten und verhungern lassen, er war erstickt in diesem engen Raum, während sein Geist aus Mangel an Nahrung, an Luft … an Hoffnung dem Wahnsinn verfiel.
Aus den untersten Tiefen ihrer Seele quollen Erinnerungen empor, und sie versank wieder in ihrem Albtraum.
… Die blutenden Hände scharren vergebens an den Wänden. Sie ertastet grobe Spuren in der rauen Oberfläche. Buchstaben. Auf allen Seiten. Zaubersprüche – mächtige Zaubersprüche –, die ihr langsam, aber sicher alle Lebensenergie stehlen werden, die sie in sich trägt, um sie umzuwandeln in …
… Sie öffnet den Mund zu einem wortlosen Schrei und lässt das Entsetzen herausströmen, bis die Steinmauern unter der Wucht der Laute erbeben. Draußen werden die Tiere das Echo vernehmen und fliehen, denn die Schreie werden so schrecklich sein, dass nicht einmal ein Dämon es wagen würde, sich dem magischen Grab zu nähern …
Im Schlaf hatte ihr Unterbewusstsein erkannt, was der Heilige Zorn tatsächlich war, und es
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