Die Seelenzauberin - 2
hatte versucht, sie zu warnen.
Jetzt zitterte auch sie.
»Er hatte recht.« Rhys’ Stimme klang hohl. »Anukyat. Er hat es gewusst.«
Kein Gott hatte diesen Kegel geschaffen. Kein Gott hatte diesen Menschen zum Tode verurteilt oder in voller Absicht diese Kammer des Schreckens errichtet, um seine letzten Stunden zu einer einzigen Qual zu machen. Alles war Menschenwerk gewesen.
»Sie haben sämtliche Hexen und Hexer getötet«, sagte Kamala und schreckte vor ihren eigenen Worten zurück. »Das war wohl der Grund, warum es nach dem Krieg mit den Seelenfressern keine mehr gab. Jeder einzelne von euren Speeren enthält ein Menschenopfer.«
Nur Hexen und Hexer hätten für ein solches Opfer getaugt , dachte sie. Wer sonst wäre fähig gewesen, die Lebensenergie eines ganzen Menschenlebens in wenigen Tagen zu verströmen? Kein gewöhnlicher Mensch hätte dem Fluch, der sie fesselte, so reichlich Nahrung geben können.
Sie blickte über die Ebene hinaus; mit ihrem Zweiten Gesicht konnte sie ganz schwach das Flimmern des Heiligen Zorns erkennen, der sich von Ost nach West über das Land zog, eine grausame, unwiderstehliche Macht. »Es ist die Energie des Todes«, flüsterte sie. »Menschliche Angst, menschlicher Hunger, der Wahnsinn der lebendig Begrabenen, gebündelt durch die Zaubersprüche, die hier geschrieben stehen, das Seelenfeuer eines ganzen Lebens, in wenigen Stunden freigesetzt und zu einer Barriere verwoben …«
»Von wem stammen die Sprüche?«, wollte er wissen. »Wer hat diesem Hexer das angetan?«
Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: »Ich weiß es nicht.«
»Freiwillig? War es freiwillig? Die Mythen sagen, die Hexen und Hexer hätten sich selbst geopfert …«
Sie erschauerte. War es möglich, dass irgendein Mensch, ob Mann oder Frau, sich aus freien Stücken in ein solches Schicksal ergab? »Ich weiß es nicht, Rhys.« Wie viele Speere waren es insgesamt? Dutzende allein auf diesem Kontinent und vermutlich noch mehr in allen Teilen der Welt, wo trockenes Land dafür zu finden gewesen war. Man hatte die gesamte Polarregion mit einem Zaun aus diesen Speeren abgetrennt, um die Reiche der Menschen für immer zu schützen. Eine scheinbar unüberwindliche Barriere, zusammengehalten durch den Tod.
Wie viele Hexen und Hexer waren dafür gestorben? Wer hatte sie getötet?
»Dieser Speer ist nicht mehr zu retten«, sagte Rhys. Seine Stimme klang hohl. »Die Zaubersprüche wirken nicht mehr. Seht doch nur …« Er scharrte eine Handvoll Ziegelscherben zusammen und ließ sie durch die Finger rinnen. Die Zeichen auf den Steinen waren unwiederbringlich verloren. »Kein Mensch weiß, wie man sie erneuern könnte.« Er wollte noch mehr sagen, machte den Mund aber gleich wieder zu. Und kein Mensch wäre dazu bereit , sagte seine Miene. Wir sind Heilige Hüter, keine Mörder.
Kamala schloss kurz die Augen und drängte die schreckliche Macht dieses Ortes zurück, um wieder klar denken zu können. »Wir müssen die Zeichen kopieren«, sagte sie dann. Aethanus vermöchte sie sicherlich zu entziffern oder wüsste zumindest, wo man mit der Untersuchung ansetzen könnte. »Wir müssen sie mit zurücknehmen, damit andere sie sehen können.« Vielleicht ließe sich etwas tun, um dem Heiligen Zorn seine Kraft zurückzugeben, ohne die Gräuel zu wiederholen, durch die er einst errichtet worden war.
Erkenntnisse dieser Art wären für die Magister sicherlich von großem Wert.
Rhys erschauerte. Für einen Moment stand er so reglos da, dass sie schon fürchtete, er sei ihr wieder entglitten, doch dann nickte er entschlossen und schob seinen Ärmel zurück. Er zog sein Messer, streifte mit einer Hand die Scheide ab, drückte die Spitze gegen seinen Unterarm und …
»Rhys!« Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch er wich zurück.
»Habt Ihr Feder und Tinte mitgebracht?«, fragte er. »Oder Wachstäfelchen? Ich nämlich nicht.« Er stieß das Messer in den Ärmel seines Hemds und trennte einen Streifen ab. »Wir könnten auch daraus einen Teppich weben. Oder die Zeichen einsticken. Was haltet Ihr davon? Oder vielleicht … vielleicht könnt Ihr uns mit einem Hexenzauber alles ins Gedächtnis einbrennen? O nein, wartet. Keine Zaubersprüche an diesem Ort. So geht es also nicht.«
Er sah ihr in die Augen, und aus seinem Blick sprach der Wahnsinn; sein blondes Haar war vom Wind zerzaust und klebte an seinem tränenverschmierten Gesicht. Lange starrte er sie an, doch als sie keine weiteren Anstalten machte, ihn an
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