Die Seelenzauberin - 2
mag nur eine Hexe sein, aber das heißt nicht, dass sie töricht ist , dachte er.
Wie viele seiner Brüder für diese Lektion wohl teuer bezahlen mussten?
Du hättest ihm mit den Zähnen die Kehle aufreißen sollen.
Die Empörung des Seelenfressers war so stark, dass Siderea für einen Moment tatsächlich glaubte, Colivars Blut auf den Lippen zu spüren. Blut schmeckte so süß! Wie sehr sie ihn und seinesgleichen hasste! Sie hatte all ihre Kunst aufbieten müssen, um diesen Hass nicht zu zeigen, solange Colivar bei ihr war. Er durfte die Wahrheit nicht erraten.
Unser Territorium! Unverletzlich! Die Gedanken des Seelenfressers tobten in ihr wie ein Unwetter, Gedanken, die ursprünglich nicht in menschlicher Sprache geäußert, aber irgendwo in ihrem Gehirn übersetzt wurden, damit sie sie verstehen konnte. Der Vorgang wurde beiden im Lauf der Zeit immer selbstverständlicher, verlief aber deshalb nicht weniger stürmisch.
Alles ist gut , sendete sie stumm. Du kannst mir vertrauen.
Eine heiße Zorneswelle schlug über ihr zusammen. Inzwischen fürchtete sie solche Überfälle nicht mehr, sondern gestattete den animalischen Empfindungen, sie zu durchströmen und ihre menschlichen Instinkte zu überfluten. Es war der Stoff des Lebens, er leitete die Macht aus dem Körper des Seelenfresser-Weibchens in ihren eigenen, und sie hieß diese Macht willkommen wie die Umarmung eines Liebhabers.
Du kannst mir vertrauen , flüsterte sie ihrer geflügelten Konjunkta zu, als der Sturm sich ausgetobt hatte. Ihre Seele war jetzt bis zum Rand gefüllt, die Macht kribbelte ihr in den Fingerspitzen. Alle Zauberkräfte der Magister konnten es nicht mit der Lebendigkeit des Seelenfressers aufnehmen. Und diese armen, dem Untergang geweihten Seelen in ihren schwarzen Leichentüchern hielten sich auch noch für unbesiegbar! Eines Tages würde sie lediglich die Hand heben, und sie würden in Scharen angelaufen kommen und sich gegenseitig in Stücke reißen, nur damit sie ihnen erlaubte, sie zu berühren. Rache war so süß!
Du kannst mir vertrauen , flüsterte sie ihrer Konjunkta noch einmal zu. Beruhigende Gedanken. Zärtlichkeit und Zuversicht.
Er ist zu weit gegangen! Er hat dich beleidigt!
Und dafür wird er bezahlen , versprach sie.
Sie öffnete die Hand und blickte voller Genugtuung auf das lange schwarze Haar, das sich zwischen ihren Fingern verfangen hatte.
»Alles zu seiner Zeit«, flüsterte sie versonnen.
Kapitel 16
Die Flügel des Schmetterlings gingen langsam auf und nieder und begannen, die Farbe zu wechseln. Die rötlichen Flecken an den Rändern wurden zunächst größer und dunkler und zerflossen schließlich zu tief violetten Feldern. Als Nächstes verschmolzen auf jeder Seite seines Körpers zwei weiße Streifen miteinander, rollten sich ein und bildeten an ihrem Ausgangspunkt ein kompliziertes Knotenmuster. Danach setzten sich auch die winzigen weißen Punkte auf dem Körper in Bewegung und fügten sich zu Rosetten zusammen wie auf einem Leopardenfell – eine seltsame Zeichnung für ein Insekt.
Der Schmetterling schien sich seiner unglaublichen Verwandlung gar nicht bewusst zu sein. Er nippte noch einmal an der Blüte, dann schlug er schnell mit den Flügeln und schwebte mit der nächsten Brise davon.
»Hier kannst du deine Hexenkunst also ausüben?«, fragte Rhys.
»Es sieht so aus.« Kamala hätte ihre Zauberkräfte gern an einem größeren Objekt erprobt, bevor sie ihnen noch einmal ein Menschenleben anvertraute, aber keine echte Hexe hätte ihr Athra so verschleudert. Solange sie noch nicht bereit war, ihr wahres Wesen zu offenbaren, musste sie sich auf Versuche beschränken, zu denen sich auch eine echte Hexe bereitgefunden hätte.
Wieder sah sie Rhys an. Sie hatten Alkal ungehindert verlassen – und standen auch nicht mehr unter dem verheerenden Einfluss des Heiligen Zorns –, aber das hatte seine Stimmung kaum verbessert. Sein Blick war von einer Leere, die sie immer wieder aufs Neue erschauern ließ – als hätte er einen Teil seiner Seele eingebüßt. Wenn sie ihn sanft berührte, kam keinerlei Reaktion oder, falls er es doch bemerkte, wehrte er sie achselzuckend ab. Sie hatte viele Nächte lang beobachtet, dass er im Mondschein wach lag, und sich gewünscht, ihm Ruhe schenken zu können. Aber sie hatte nicht gewagt, einen Zauber zu wirken, ohne zu wissen, was der Heilige Zorn daraus machen würde. Jetzt konnte sie ihren Kräften zwar wieder vertrauen, aber sie wusste nicht, wo sie anfangen
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