Die Seelenzauberin - 2
Atem, dass sie ihr nicht einmal danken konnte.
Sie verließen die engen Gässchen und gelangten unweit der Abfallgruben auf freies Gelände. Jetzt stiegen Yosefa Rauchgeruch und der beißende Gestank verbrannten Fleisches in die Nase. Als sie das andere Ende eines Ackers erreichten und sich anschickten, den Hügel dahinter zu ersteigen, liefen ihr die Tränen über die Wangen. In besseren Tagen war sie mit ihrer Familie an Feiertagen hierhergekommen, um im Freien zu essen und zuzusehen, wie im Hafen die Schiffe aus- und einfuhren. Nun schien ihr die Kuppe des Hügels, die mit Bäumen bestanden war, der sicherste Zufluchtsort zu sein. Ein gutes Versteck.
Ein paar Kinder stolperten auf dem Hang und fielen hin, aber keines fing an zu weinen. Die Mütter zogen sie an den Armen in die Höhe und zerrten sie weiter, aber es gab keine Klagen. Alle waren bleich vor Entsetzen und schienen zu begreifen, wie wichtig es war, sich still zu verhalten. Sogar Yosefas kleine Söhne hatten sich beruhigt.
Endlich hatte die ganze Schar die Kuppe erreicht und war zwischen den dichten Bäumen vor Blicken geschützt. Erst als sie hinter den belaubten Ästen verschwunden waren, fiel Yosefa auf die Knie und rang nach Atem. Sie zitterte an allen Gliedern. Die Blätter waren zwar kein fester Schutzwall, aber zumindest konnte das Grauen, das unten in der Stadt wütete, sie nicht so leicht finden. Und wenn es ihnen über den Acker folgen sollte, sähen sie es zumindest kommen.
»Schau nur«, flüsterte eine der anderen Frauen heiser. Sie stand am Rand des Dickichts und blickte auf die Stadt hinunter.
Auch Yosefa suchte sich einen geeigneten Aussichtspunkt.
Die Stadt stand in Flammen.
Dicke schwarze Wolken wälzten sich nicht nur durch die Gassen, die sie eben verlassen hatten, sondern auch durch die anderen Viertel. Wo sich der Qualm für einen Moment lichtete, war der Boden mit Leichen übersät. Stumm und reglos – unheimlich reglos – lagen sie in ihrem Blut. Manche waren scheinbar unversehrt und schienen nur zu schlafen, doch die roten Pfützen erzählten eine andere Geschichte. Einigen fehlten Arme und Beine oder sogar der Kopf. Die Szene war so unwirklich, dass Yosefa kaum fähig war, sie aufzunehmen.
Dann schnappte eine der Frauen nach Luft und deutete auf den Hafen.
Dort lagen drei Schiffe, lang und schmal, mit wenig Tiefgang. Der Bug endete jeweils in einem Tierkopf, die Rümpfe waren mit Schuppen bedeckt und sahen aus wie riesige Schlangen mit steil aufgerichteten Schwänzen. Yosefa hatte so etwas noch nie gesehen, aber ein Spielmann hatte einmal von Schlangenschiffen gesungen, die es vor langer Zeit und in fernen Ländern gegeben habe. Doch wie kamen solche Schiffe hierher?
Soeben kehrten etliche Männer und auch ein paar Frauen in Harnischen zu diesen Schiffen zurück; sie trugen blutige Waffen am Gürtel und Säcke mit Beutegut über den Schultern. Zwei hünenhafte Kerle trieben eine Schar verschüchterter Mädchen mit Stricken um den Hals auf die Decks. Die ältesten konnten nicht viel mehr als zehn Jahre zählen.
Ohne den Blick von der Blutprozession zu wenden, streckte Yosefa die Arme nach ihren eigenen Kindern aus und zog sie an sich, wie um sie zu schützen. Sie spürte, wie die kleinen Herzen klopften.
»Was ist das, Mama?« Ihre Tochter presste sich an sie. Auch sie zitterte. »Was machen die da?«
Soladin war immer eine friedliche Stadt gewesen. Der Hafen stand allen Reisenden offen und wurde allseits respektiert. Vor langer Zeit sollten mehrere Fürsten um den Besitz des umliegenden Gebiets gekämpft haben, aber Danton Aurelius hatte den Streit beendet. Frieden durch das Schwert , hatte er das genannt. Außerdem hatte er allen Nachbarn deutlich zu verstehen gegeben, dass es sie teuer zu stehen käme, wenn sie sich an Soladin vergriffen, und niemand hatte gewagt, ihn beim Wort zu nehmen. Der Hafen und seine Umgebung hatten sich zu einem Zentrum des hiesigen Handels entwickelt und waren dementsprechend zur Blüte gelangt. Der jährliche Tribut, den der Großkönig für seinen Schutz verlangte, schien dafür kein zu hoher Preis zu sein.
Salvator Aurelius musste von dem Überfall erfahren, dachte Yosefa wie im Fieber. Der neue Großkönig wusste sicherlich, was er zu tun hatte. Er würde dem Beispiel seines Vaters folgen und die Übeltäter vernichten.
Die Schlangenschiffe waren jetzt fertig beladen. Die Kinder drängten sich in der Mitte der offenen Decks aneinander, zu beiden Seiten wurden lange Ruder nach
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