Die Seelenzauberin - 2
unvorstellbar dekadent.«
»Ach so.« Sie hob die Hand und fuhr mit federleichtem Zeigefinger die Konturen seiner Wange nach. Allen guten Vorsätzen zum Trotz spürte er ein Ziehen in der Leistengegend. »Darf ich Euch dann etwas mehr Dekadenz wünschen? Oder wäre das ein Angriff auf Euren Glauben?«
Er sprach ein stummes Gebet, um sich zu beruhigen, und sagte dann mit fester Stimme: »Nur wenn ich den Wunsch erwidern darf.« Er konnte bloß hoffen, dass die Worte nicht so gekünstelt klangen, wie sie ihm vorkamen. Mit einem Mal hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen, nichts war mehr … gewiss.
Aber sie zog keinen Gewinn aus seiner Unsicherheit. Oder war sie ihr womöglich gar nicht aufgefallen? Er reichte ihr seinen Arm, und sie gingen gemeinsam auf die schmale Tür zu, die in den Turm führte. Ihr Gang war bewegte Poesie. Wie viele Monate – wie viele Jahre – mochte sie geübt haben, um dieses fließende Gleiten so mühelos zu beherrschen? Es war unmöglich, nicht hinzusehen. Unmöglich, davon völlig unberührt zu bleiben.
An der Tür verharrte sie, als wäre ihr etwas eingefallen, und strich nachdenklich über das verwitterte Eichenholz.
»Corialanus wird Schwierigkeiten machen«, sagte sie endlich. »Zumindest für heute habt Ihr die Abordnung mit Eurem Auftreten zwar für Euch gewonnen, aber man wird Eure Geduld dort noch auf eine harte Probe stellen. Ein Freund im Süden, der von irgendwelchen Machenschaften bereits im Entstehen erfahren und Euch rechtzeitig warnen könnte, käme Euch doch sicherlich gelegen.«
Er nickte ernst. »Ein solcher Freund könnte meiner ewigen Dankbarkeit gewiss sein. Und ich würde mich nach Kräften erkenntlich zeigen.«
Sie sagte nichts mehr, sondern lächelte nur geheimnisvoll, schlüpfte durch die Tür und war verschwunden. Ihr Duft hing noch ein paar Augenblicke länger in der Luft, und Salvator wartete, bis der nächtliche Wind auch den letzten Hauch davongetragen hatte und seine Erregung – so weit wie möglich – abgeflaut war.
Die erste Versuchung hast du bewältigt , sagte er sich. Das kann dir Kraft geben. Du kannst darauf bauen.
Aber es dauerte sehr, sehr lange, bis es ihm gelang, sich diese Frau aus dem Kopf zu schlagen.
Das Erwachen
Die Grausamkeit der Bestie wohnt im Herzen
eines jeden Menschen;
möge er ihr niemals die Herrschaft überlassen,
auf dass seine Seele sich nicht abwende von allem Menschlichen
und die Musik der Engel nicht in Vergessenheit gerate.
Das Buch der Buße
Betrachtungen 24:1,2
Kapitel 11
Nyuku erinnert sich:
Kälte. Der Wind peitschte messerscharfe weiße Schmerzfahnen durch die weiche Haut des Jungen und trieb sie immer tiefer in seinen Körper hinein, bis sich sein Herz anfühlte wie ein gezackter Eisklumpen, der bei jedem einzelnen Schlag zu zerspringen drohte.
Genau vor ihm flog ein Gott mit dem schlaffen Körper eines Opfers in den Klauen. Das Mädchen hatte sich kurz gewehrt, als sie gepackt wurde, aber Angst und Kälte hatten sie schließlich überwältigt; jetzt hing sie wie eine zerbrochene Puppe aus den Fängen des Ungeheuers, ihr Haar war von Raureif bestäubt, die glasigen Augen starrten ins Leere.
Ihm würde es ebenso ergehen, wenn sie ihn nicht bald an einen geschützten Ort brachten, dachte der Junge und erschauerte heftig. Immerhin fror er noch. Und er erfasste auch noch, wie wichtig das war. Erst wenn man die Kälte nicht mehr spürte, war man dem Tod nahe. Vielleicht hatten die Götter den Menschen so geschaffen, damit er gewarnt wäre, bevor er seine Grenzen überschritt, und sich in Sicherheit bringen konnte, bevor ihm ihr eisiger Zorn das Lebenslicht ausblies.
Bedauerlich war nur, dass er sich nicht mehr in Sicherheit bringen konnte.
Nach den Lehren der Priester war die Welt aus Eis und Schnee entstanden; ursprünglich seien Erde und Himmel hart gefroren gewesen. Doch die Götter hätten schließlich eingesehen, dass an einem solchen Ort kein Leben gedeihen konnte. Als alle Versuche, die Welt zu bevölkern, kläglich scheiterten, habe ein Gott namens Kuta ein Stück von der Sonne gestohlen und es tief in der Erde vergraben, sodass das Land genau über dem Sonnenstein auftaute und das Wasser dort frei fließen konnte. Dann sei der Mensch erschaffen worden und mit ihm alle Pflanzen und Tiere, die Sonnenlicht und frisches Wasser brauchten, und die Götter hätten ihnen diesen Ort als Heimat zugewiesen. Und so habe die Welt entstehen können.
Der Junge hatte diese Geschichten immer mit einer
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