Die Seelenzauberin - 2
gewissen Skepsis gehört. Doch als er nun aus dem Blickwinkel der Götter auf seine Welt hinabschaute und mit eigenen Augen sah, wie sich nach allen Seiten endlose weiße Eisflächen an das Land der Sonne anschlossen, hielt er es für möglich, dass die ganze Welt tatsächlich einmal tot gewesen war und auch wieder tot sein würde, sollte das kostbare Sonnenstück der Menschheit jemals erlöschen.
Die Vorstellung hätte ihn Bescheidenheit lehren sollen, aber das war nicht der Fall. Es gab Götter, die die heiligen Feuer der Sonne hüteten, und Menschen, die diesen Göttern dienten. Man munkelte, solche Menschen trügen Sonnenfünkchen bei sich und könnten sich daher auch in verbotene Regionen wagen, wo das himmlische Licht niemals leuchtete. Angeblich ritten sie sogar auf dem Rücken der Götter, als wären sie nicht nur deren gehorsame Diener, sondern gleichberechtigte Gefährten. Der Junge hatte bis zum heutigen Tag nie so recht an diese Erzählungen geglaubt, doch seit er sich im Kessel des Vulkans mit eigenen Augen von ihrer Wahrheit überzeugt hatte, gingen sie ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Es gab tatsächlich Menschen, die sich über ihresgleichen erhoben hatten und so frei und mächtig waren wie die Götter.
Er war entschlossen, einer von ihnen zu werden.
Jäh fuhr ihm ein eisiger Windstoß in die Augen, und der Schmerz war so heftig, dass er für einen kurzen Moment die Lider schloss. Als er sie wieder öffnete, hatte sich die Welt unter ihm verändert. Jetzt ragten spitze graue Zacken in einer schmalen Linie aus dem Weiß wie die halb vergrabenen Knochen eines längst verendeten Tieres. Und der Gott, der ihn entführt hatte, schoss so plötzlich nach unten, dass ihm fast das Herz stehen blieb, weil er glaubte, er wäre losgelassen worden und stürze ab. Dann erkannte er, dass die »Knochen« in Wirklichkeit eine Kette von steilen Bergen waren, deren Höhe er nicht einschätzen konnte, weil ihm die weiße Ebene ringsum keine Vergleichsmöglichkeiten bot. Sie waren offensichtlich am Ziel.
Unweit von ihm schoss ein anderer Gott mit einem Mann auf dem Rücken nach unten. Zumindest hielt er die Gestalt für einen Mann. Aus den Schultern des Gottes wuchsen zwei kleinere Flügel nach hinten und legten sich wie ein glänzender, bläulich schwarzer Kokon um den Reiter. Dadurch sah er auf den ersten Blick nicht wie ein Mensch aus, sondern schien ein Teil des Götterkörpers zu sein. Erst wenn der Junge länger hinsah, konnte er weitere Merkmale unterscheiden.
Er erschauerte.
Unter sich glaubte er zwischen zwei Bergen das schwache Flimmern eines heiligen Teiches zu erkennen. Wärme. Das bedeutete Wärme. Dann kam offenes Wasser in Sicht, ein schwarzer Spalt ähnlich den schmalen Rinnen um sein Heimatdorf, wenn das Eis im Frühling Sprünge bekam. Auch hier liegt ein Stück der Sonne vergraben , dachte er in ehrfürchtiger Scheu. Wer hätte gedacht, dass es auf der Welt noch einen solchen Ort geben könnte? Die Priester hatten jedenfalls nie über etwas Derartiges berichtet. Wussten sie überhaupt davon? Oder war er unter seinesgleichen der Erste, der von diesem Geheimnis erfuhr?
Sprachlos vor Staunen schaute er hinab. Die Kälte war vergessen. Unter ihm verschwanden Eis und Schnee, nackte Erde breitete sich aus, dann erschien ein dampfender See, umgeben von spärlicher Vegetation. Nutztierherden sah er keine, aber er war sicher, dass es sie gab. Und hungrige Raubtiere, die sich von ihnen nährten.
Aber was war mit Menschen?
Unter dem gewaltigen Rauschen ihrer blau-violetten Schwingen landete eine der großen Kreaturen am Rande des Sees. Andere folgten. Sie hielten Abstand von ihren Artgenossen, brüllten drohend, wenn ihnen ein zweiter Gott zu nahe kam, und fletschten die messerscharfen Zähne. Der Junge hatte Mörderrobben so brüllen hören, wenn in der Paarungszeit ein Rivale ihren Weg kreuzte: eine blinde Wut von erschreckender Primitivität. Er erschauerte bei der Vorstellung, mitten in einer solchen Szene abgesetzt zu werden, obwohl er sich zugleich danach sehnte, wieder die Wärme eines Sonnensteins unter seinen Füßen zu spüren.
Aber sein Gott hatte andere Pläne. Obwohl er zunächst herunterging und zum See einschwenkte, zog er unversehens wieder hoch, bevor er die Wasseroberfläche erreichte, und drehte scharf nach einer Seite ab. Die Bewegung kam so unerwartet, dass dem Jungen der Atem stockte und er verzweifelt die eisige Luft in seine Lungen sog. Mit einem Mal verdunkelte sich über ihm der
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