Die Seevölker
Bericht:
»Ganz allgemein ergibt sich aus den Ausgrabungen in den Grabhü-
geln, daß sie in die Zeit der 20. Dynastie zu datieren sind«, genauer
gesagt, in die mittlere Phase dieser Dynastie. »Aus den ersten sieben
Grabhügeln ist mit Sicherheit nichts aus späterer oder früherer Zeit,
während die Entdeckung von Skarabäen mit den Namen Ramses' III.
und Ramses' VI. – in Übereinstimmung mit der Tatsache, daß der auf-
fallendste Keramiktypus, die sogenannte ›falsche Amphora‹, sich auf
den Malereien im Grab Ramses' III. wiederfindet – das exakte Datum
festlegt.«
In dem fast 500 Kilometer entfernten Grab Ramses' III. in Theben,
im »Tal der Könige«, finden sich auf den Wandmalereien ganz ähnli-
che »Amphoren« (Gefäße mit zwei Henkeln und schmalem Hals). Na-
ville dagegen behauptete, die in den Grabhügeln der Wüsten-
Nekropolis gefundenen »zypriotischen Flaschen« seien gerade ein An-
zeichen für die späte Entstehung dieser Gräber, und er konnte zu sei-
ner Unterstützung die Tatsache anführen, daß Flinders Petrie »bereits
ähnliche Exemplare bei Nebeschesch gefunden hatte«, der griechischen
Militärsiedlung im Nildelta, die eine Tagesreise westlich von Deffeneh
(Daphnae) entfernt war; die Griechen hatten sich erstmals im 7. Jahr-
hundert in Ägypten niedergelassen.
Griffith schrieb ferner: »In der gleichen Periode, in der der Königs-
saal [Ramses' III.] in der Stadt [auf der Grabungsstätte Teil el-
Jehudijeh] gebaut wurde …, müssen viele wohlhabende Leute in der
Stadt gewohnt haben, die sich eine so ansehnliche Bestattung in derar-
tigen Grabhügeln leisten konnten.« Der oben beschriebene Saal mit
den Fayence-Scheiben entstand zur gleichen Zeit wie der Friedhof.
Wir stehen hier also wieder vor dem gleichen Problem – und zwar
beim Friedhof wie auch beim Königssaal. Stammen diese Gräber aus
der Zeit Ramses' III., d.h. aus dem 12. Jahrhundert vor der Zeitwende,
wie Griffith nachdrücklich behauptet? Oder entstanden sie in griechi-
scher oder gar in römischer Zeit, wie Naville nicht weniger überzeu-
gend argumentiert?
Zwischen der Zeit Ramses' III. und der Zeit der ersten griechischen
Siedlung in Ägypten vergingen mehr als fünf Jahrhunderte; aber als
Naville die Malereien in den Särgen der Tumuli mit denjenigen aus
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griechischer und römischer Zeit verglich, hatte er jenen Zeitraum vor
Augen, in dem der griechische Einfluß in Ägypten bereits stark ange-
wachsen war, also das vierte Jahrhundert vor unserer Zeit, wenn nicht
gar die Zeit der Ptolemäerherrschaft, die nach dem Tod Alexanders –
323 begann und dann bis ins erste vorchristliche Jahrhundert hinein
anhielt, in welchem sie zur Zeit von Pompejus und Kleopatra von der
römischen Herrschaft und dem sich daraus ergebenden Einfluß ersetzt
wurde.
Ganz gewiß werden wir hier nochmals mit dem gleichen Problem
konfrontiert. Die Toten in den Gräbern hatten entweder unter Ramses
III. in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gelebt, wie das die Skara-
bäen dieses Pharaos und die seines Vaters und die Amphoren glei-
chermaßen bezeugen, oder aber, sie haben im 4. Jahrhundert gelebt,
wenn nicht gar noch später – die Zeitspanne beträgt mindestens acht
Jahrhunderte.
Seltsam, aber hier sahen sich die Archäologen in der selben Umge-
bung zum zweitenmal mit dem gleichen Dilemma konfrontiert. Das
waren keine Amateure, keine ungeschulten Archäologen, sorglos oder
streitsüchtig. In der Geschichte der Archäologie hat der Name des
Welschschweizers Edouard Naville einen guten Klang. Der Name von
Francis Llewellyn Griffith zählte später zu denen der bedeutendsten
britischen Ägyptologen. Sie haben das Problem, wie alt die Hügelgrä-
ber in Wirklichkeit sind, vor ihren Lesern ausgebreitet, aber auf wel-
cher Grundlage soll ein Leser darüber entscheiden, wenn alles vorhan-
dene Beweismaterial den beiden ausgrabenden Archäologen bereits
vorlag, die es an Ort und Stelle studiert und ihre Erkenntnisse darüber
schriftlich niedergelegt haben? Eines war klar: Es gab eindeutiges Be-
weismaterial für die Datierung in die Regierungszeit Ramses' III., aber
ebensogut gab es auch eindeutiges Beweismaterial für eine Datierung
in die griechische Zeit.2
Das Problem ist nicht gelöst. Statt in der Nekropolis eine Lösung für
die griechischen Buchstaben auf den Kacheln von Ramses III. gefunden
zu haben, sind wir dort einem sehr ähnlichen Rätsel begegnet, wobei
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