Die Seherin der Kelten
hast immer eine Wahl.«
Mac Calma war der Ratsälteste von Mona; er konnte in einem einzigen Satz mehr zum Ausdruck bringen als andere an einem ganzen Tag, und genau das tat er denn auch. Eine Göttin und eine Welt warteten, während sich die vielen in seinen Worten enthaltenen Bedeutungsschichten zu entfalten begannen.
Valerius saß auf dem Gras, an der Stelle, wo kurz zuvor noch sein Feuer gebrannt hatte. Der letzte Rest der vom Boden ausstrahlenden Wärme schützte seine Füße vor der eisigen Kälte. Er blickte sich suchend nach dem Mond um; und fand die mehr und mehr verblassende Sichel Nemains am westlichen Horizont. Ihre Gegenwart wärmte seine Seele. Mithras hatte das nie getan, noch nicht einmal in der Höhle.
Er runzelte die Stirn und starrte erst auf seine Finger und dann auf das Gras. Eine ganze Reihe von Dingen wurde ihm allmählich klar, während andere wiederum unverständlich blieben. Nach einer Weile sagte er: »Breacas lange Nächte in der Einsamkeit sind nicht so ausgegangen wie meine.«
Luain mac Calma legte seinen Umhang ab, faltete ihn zusammen und ließ sich dann auf dem so entstandenen Polster nieder. Auf seinen nackten Armen war eine Gänsehaut zu erkennen. Er stützte das Kinn in die Hand und erklärte: »Deine Schwester war ja auch noch ein Kind, das erst noch erfahren musste, was sie als Erwachsene und Kriegerin werden könnte. Sie musste erst noch in den Tiefen ihrer Seele die Realität von Leben und Tod erleben. Du dagegen bist damals aufgrund der besonderen Umstände vor deiner Zeit erwachsen geworden, und es gibt nichts mehr, was dich noch irgendjemand - sei es nun Göttin oder Träumer - über das Leben und das Sterben lehren könnte. Während andere ihre drei langen Nächte absolvieren, um ihre Kindheit endgültig hinter sich zu lassen und erwachsen zu werden, musstest du quasi wieder zurück in deine Kindheit gehen, um umzulernen und dich neu zu orientieren - um das, was du gewesen bist, aufzugeben und herauszufinden, was sonst noch aus dir werden könnte. Hast du das getan?«
Das also war die knappe Rechtfertigung für ein sich über neun Monate hinziehendes Verhör. Valerius dachte darüber nach, was er war, was er früher gewesen war und was er vielleicht noch werden könnte. Die Rettungsanker seiner Vergangenheit hatten sich unter dem Einfluss der Traumkammer der Ahnen gelockert, und Nemain hatte ihm die Gewissheit gegeben, dass sie bis zu seinem Tode und noch darüber hinaus gegenwärtig sein würde. Nichts von alledem stellte jedoch eine stabile Grundlage dar, auf der sich eine handfeste Zukunft aufbauen ließ. Doch zunächst gab es da noch eine spezielle Erinnerung, die ihm keine Ruhe ließ. »War der Hund eigentlich real? Der, der in der Dunkelheit bei mir war?«
»Kam er dir denn real vor?«
»Zu jener Zeit schon.« Die Erinnerung an eine warme Zunge auf seinem Handgelenk war noch ebenso wirklich oder auch unwirklich, wie sie es in der Traumkammer gewesen war. »Ist der Hund dann also mein Traum, so wie der Hase Airmids Traum ist?«, wollte Valerius wissen. »Die ältere Großmutter nannte mich früher oft Pferdeträumer.«
»Und Hasenjäger, wie ich mich noch gut erinnere. Was dich aber nie davon abgehalten hat, auch Hirsche oder Wildschweine zu jagen.«
»Oder Menschen. In der Tat. Ich wusste ja nicht, dass man wählen kann.«
»Das können auch nur wenige. Du bist einer dieser wenigen.«
»Danke.«
Mehr noch als jede Vision wünschte Valerius sich, dass der Hund real war, dass er ihn dazu bringen könnte, aus der Grabkammer herauszukommen und neben ihm herzulaufen, ihn auf der Jagd zu begleiten und mit seinem Pferd um die Wette zu rennen, um auf diese Weise alles das, was er verloren hatte, wieder lebendig werden zu lassen. Die Enttäuschung führte ihn schnurstracks wieder zum Ausgangspunkt seines gesamten Lebens zurück, zu dem Gefühl allererster Hoffnung und dem Schmerz allerersten Verlusts.
Ich biete dir dein Geburtsrecht an.
Wie ein Kind, das nach dem Hasen verlangt, der auf dem Mond lebt, sagte Valerius: »Du hast mich gefragt, ob ich herausgefunden hätte, was ich vielleicht noch werden könnte. Es gab einmal eine Zeit, da wünschte ich mir nichts sehnlicher, als Krieger zu werden, aber das bin ich ja nun viele Jahre lang gewesen, und ich war doch niemals voll und ganz mit dem Herzen dabei. Wenn ich jetzt noch einmal von neuem wählen könnte, dann würde ich gerne Träumer werden. Habe ich diese Wahl?«
»Was?« Mac Calma stieß ein kurzes,
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