Die Seherin der Kelten
sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. »Du musst wohl sehr stolz sein auf deinen Sohn. Er erweist seinen Eltern Ehre.«
Der Schmerz, der in seiner Stimme lag, schnitt durch das Durcheinander seiner einstigen, halbherzigen Hoffnungen. Breaca fuhr sich mit der Hand über die Augen und sah ihn dann, zum ersten Mal in ihrem Leben, wirklich aufmerksam an. Und zum ersten Mal in ihrer beider Leben erwiderte Tagos ihren Blick ganz offen; als ein Mann, der sich an den Rand seiner Existenz gedrängt sah.
Und genau dieser Rand war jene Zone, in der sie lebte und in die er doch nie hatte vordringen können. Quer durch den Raum blickten sie einander an; die Kriegerin und der, der nie ein Krieger gewesen war; die Mutter und der, der nie ein Vater gewesen war; Geliebte und Liebender, aber niemals einer, dessen Liebe erwidert wurde.
Tagos zupfte am Saum seines Ärmels. »Ich hasse Caradoc nicht«, fuhr er schließlich fort. »Und ich habe ihn auch nie gehasst. Ich wollte einfach nur so sein wie er. Beziehungsweise, ich wollte er sein. Wenn die Träumer einen Weg wüssten, wie man einen Mann in den Körper eines anderen versetzte, dann hätte ich mit Caradoc die Plätze getauscht; jeden einzelnen Tag meines Lebens hätte ich nur allzu gerne mit ihm getauscht. Selbst jetzt, da er ein Krüppel ist und in Gallien im Exil lebt, würde ich noch mit ihm tauschen wollen, einfach um der Vater jener Kinder sein zu dürfen, die er gezeugt hat. Seine Töchter leuchten wie die Sonne und der Mond, als eine Kriegerin und eine Träumerin, die die Sänger noch über Generationen hinweg erfreuen werden. Und es scheint, dass auch sein Sohn alles das in sich vereint, wonach ein Mann nur streben kann.«
Sie standen nicht weit voneinander entfernt. Breaca streckte die Hand aus und drückte kurz seinen einen Arm. »Cunomar wird auch dir Ehre bereiten. Wenn er in den Kämpfen gegen Rom die Krieger anführt, dann wird er in ihren Augen dein Sohn sein.«
Sie sprachen mit einer Ehrlichkeit zueinander, zu der sie noch niemals zuvor gefunden hatten. Tagos rieb sich mit der Hand über die Augen. Sie waren gerötet, und das rührte nicht nur vom Rauch her und der fast schlaflos verbrachten Nacht.
»Aber du brauchst nicht so zu leben, als ob nur ein Kind deinem Leben ein Denkmal setzen könnte«, erwiderte sie. »Du bist noch jung; und der Verlust eines Arms ist nicht der größte aller möglichen Verluste. Es gibt noch immer vieles, das du aufbauen könntest, und wir könnten den Winter über bereits mit der Planung beginnen. Noch steht es schließlich nicht fest, ob wir im Frühling sterben. Wenn der Gouverneur all seine Truppen aus Camulodunum abzieht, können die Veteranen allein die Stadt nicht mehr halten, und wenn wir erst die Stadt eingenommen haben, werden sich unserer Rebellion auch die Trinovanter anschließen. In der Zerstörung Monas könnte unser Vorteil liegen.« Sie versuchte zu lächeln, vermochte ihren Mund aber nicht mehr richtig zu beherrschen. Dicht neben ihr schwebten die Träumerin der Ahnen und der Geist eines niedergemetzelten Standartenträgers. Breaca kämpfte darum, den Blick an ihnen vorbeizulenken, und fuhr fort: »Und selbst wenn wir gleich in der ersten Schlacht sterben sollten, so ist der Tod doch noch nicht das Ende. Frag die Ältere Großmutter.«
»Wenn ich nur wüsste, wie, dann würde ich es wahrscheinlich wirklich noch einmal versuchen, aber - Breaca!« Er hatte sie abrupt bei der Schulter gepackt, was erstaunlich war angesichts der Tatsache, dass sie doch immerhin etliche Schritte voneinander entfernt gestanden hatten. »Fall nicht ins Feuer!« Sein Gesicht war dicht neben dem ihren; er blickte sehr besorgt. »Wie lang ist es her, seit du zuletzt geschlafen hast?«
»Drei Tage? Vier, glaube ich. Vor den Kriegerprüfungen fanden Rituale statt, die mit der ihnen gebührenden Ehre vollzogen werden wollten.«
»Und etwas zu essen gab es für die Prüflinge wahrscheinlich auch nicht. Doch auch du musst dich durch die Prüfungen deiner Kinder nicht noch einmal selbst beweisen.«
Tagos klang belustigt und besorgt zugleich. Breaca versuchte, sich darüber klar zu werden, ob sie wohl gerade bevormundet wurde, vermochte jedoch keine Entscheidung mehr darüber zu fällen. Sie spürte, wie er sie behutsam auf das Bett niederlegte, sie entkleidete und unter die Schlaffelle schob, und sie zuckte auch nicht zurück, als er sie anschließend, sittsam, auf die Wange küsste.
Einst hatte auch Tagos das Zeug zu einem Helden
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