Die Seherin von Garmisch
für eine Sekunde unziemlich gewirkt hätte.
Aber die optische Erscheinung der jungen
Staatsanwältin war noch nie ein Problem bei ihrer Zusammenarbeit gewesen. Schwemmer
litt nur gelegentlich unter ihrer offenbar unerschöpflichen Energie und
Schaffenskraft, die ihn für seinen Geschmack zu häufig zu einer völlig
unbayrischen Hektik nötigte.
Frau Isenwald zog die Kappe von ihrem teuren
Kugelschreiber und blickte mit gespitzten Lippen auf ihren Notizblock, der in
einem Straußenlederetui steckte.
»Ein vorhergesagter Mord. Das anzunehmende Opfer macht
mit ihrem Enkel zusammen Musik. Diese Gruppe gerät unter Verdacht einer
Grabschändung, bei der dann aber Spuren auf einen bereits einmal von Frau
Kindel Beschuldigten gefunden werden … Und was wollen Sie da von mir?«
Sie sah ihn so unschuldig an, dass Schwemmer die Hitze
in den Kopf steigen fühlte.
»Frau Isenwald«, hob er an, wurde aber sofort von
ihrem Lachen ausgebremst.
»Ach, Herr Schwemmer! Lassen Sie mich doch auch mal
einen Scherz machen.«
Schwemmer grummelte irgendwas, und Schafmann
schüttelte den Kopf.
»So eine düstere Stimmung bin ich von den Herren ja
gar nicht gewohnt«, sagte Isenwald und lächelte die beiden Polizisten an.
»Soll ich diesen Speck etwa überwachen lassen? Mit
welcher Begründung und aus welchem Etat? Und wie lange?«, fragte Schwemmer.
»Ich sehe das Dilemma natürlich«, sagte Isenwald. »Und
wenn doch was passiert, sind wir die Dummen.«
»Genau. Und was glauben Sie, wird der Anwalt von dem
Kugler der Presse erzählen, wenn wir bei dem auftauchen?«, ergänzte Schafmann.
»Tja, da rühren Sie natürlich an einen empfindlichen
Punkt«, sagte Isenwald. »Mangelnde Vertraulichkeit innerhalb der
Kriminalpolizeistation Garmisch-Partenkirchen. Wenn der Besuch Frau Kindels
nicht publik geworden wäre …«
»Wenn der Hund nicht geschissen hätte«, sagte
Schafmann.
»Was dann?«, fragte Isenwald eher amüsiert als
erstaunt.
»Dann hätt er Blähungen gekriegt«, sagte Schwemmer.
* * *
Schibbsie und Girgl waren nicht in Sicht. Severin
lehnte an der Wand neben dem Aulaeingang. Er entdeckte Danni, die mit zwei
Freundinnen über den Schulhof schlenderte. Sie winkte ihm, und er winkte mit
einem Lächeln zurück. Natürlich ging ihm die kleine Schwester die Hälfte der
Zeit auf die Nerven. Aber während der anderen Hälfte spürte er eine tiefe
Verbundenheit zu dem kleinen Mädchen, die er sich selbst nicht so richtig
erklären konnte. Sie verstanden sich oft ganz ohne Worte, wussten, was zu tun
und was zu lassen war, was der andere wollte oder nicht.
Sie hatten nicht über Großmamas Träume gesprochen,
aber gestern, als er gerade die Stiege zu seiner Dachstube hochklettern wollte,
hatte Danni ihren Kopf aus der Tür ihres Zimmers gesteckt und ihm aus verschlafenen
Augen einen Blick zugeworfen. Er hatte genickt, und sie hatte genickt, damit
war alles gesagt. Und dann waren sie beide schlafen gegangen.
Großmamas Träume.
Sie waren eine Art Familienmärchen. Sie selbst hatte
nie mit Severin darüber gesprochen, aber er erinnerte sich, er war noch ein
kleiner Bub gewesen, im Kindergarten, dass ein Mädchen, er wusste ihren Namen
nicht mehr, ihn gefragt hatte, ob seine Oma tatsächlich eine Hex sei.
Er war weinend nach Haus gekommen, wo seine Mutter ihn
in den Arm genommen und seine Ängste weggelacht hatte.
»Die Großmama hat halt manchmal Träume«, hatte sie ihm
erklärt, »und da sieht sie, was anderen Leuten passiert. Und wenn das nächste
Mal jemand sagt, sie sei eine Hex, dann lachst ihn aus und sagst: Hexn gibt’s
fei gar ned.«
Und er erinnerte sich auch an die angespannte
Atmosphäre im Haus, bald darauf, die weinende Großmama, den Großpapa, der
voller Wut in der Stube auf und ab marschiert war und den kleinen Severin damit
so erschreckt hatte, dass er weinend die Stiege hoch geflüchtet war. Es musste
nach dem Prozess gewesen sein, das hatte Severin sich zumindest
zusammengereimt. Nach dem Prozess, in dem sie Johanna Kindel so lächerlich
gemacht hatten, dass sie sich wochenlang nicht mehr in den Ort gewagt hatte.
Und nach dem sie nie wieder von ihren Träumen erzählt
hatte.
Severins Blick fiel aus dem Tor auf die Bahnhofstraße,
und dort stand Petr. Als er Severins Blick bemerkte, erwiderte er ihn
gleichgültig, aber dann drehte er sich um und ging langsam davon.
Er hatte keine Ahnung, was Schibbsie und Girgl ständig
mit dem Jungen zu tun hatten. Severin hatte kaum drei Sätze mit ihm
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