Die Seherin von Knossos
menschliches Fleisch schlugen. Seufzend und geräuschvoll kaute Irmentis drauflos, und Chloe gab Fersengeld. Hinunter in die Dunkelheit, bis sie spürte, wie der Boden unter ihren Füßen nachgab und sie in absolute Finsternis hinabglitt.
Zwei Tage zuvor hatte Cheftu die Nachricht erhalten, dass Chloes Schiff in Hydroussa angelegt hatte. Die Nachricht stammte nicht von Chloe, eine Leibeigene hatte ihm erklärt, sie sei angekommen.
Jetzt, heute, erreichte ihn eine Botschaft, sie sei auf See schiffbrüchig geworden.
Das glaubte er keine Sekunde lang. Sie war am Leben; mehr noch, sie war ganz in seiner Nähe. Nachts meinte er beinahe zu spüren, wie sie nach ihm rief.
Aztlan versank im Chaos. An jenem Tag, als der Hafen versunken war, hatte es Cheftu noch zurück auf die Hauptinsel geschafft, doch erst nachdem die Stadt Daphne sich praktisch vollkommen auf die Hänge des Berges Apollon entleert hatte. Wie Küken unter die Flügel der Henne, so hatten sich die Bürger vor dem Zorn des Meeres auf die Berge geflüchtet.
Irgendwann in jener Nacht war die Schüssel unter der Bucht vollends zerborsten. Kein einziges Schiff war ihnen geblieben. Kallistae war nun eine wesentlich größere Insel inmitten eines sehr tiefen Meeres. Selbst wenn der Hafen unversehrt geblieben wäre, hätte man ihn nicht benutzen können, weil man unmöglich darin ankern konnte. Wie so etwas hatte passieren können, vermochte Cheftu nicht zu erklären, ihm blieb nur das Staunen.
Der Mond stand in dieser Nacht am Himmel und warf sein Licht auf die fernen Wasser. Der Palast war zum Bersten voll, denn wer nicht auf den Berg geflohen war, hatte sich hier versteckt. Cheftu hatte einen jungen Matrosen versorgt, der wie so viele bei der Massenpanik niedergetrampelt worden war.
Wo war Chloe?
»Ergötzt du dich im Mondenschein?«
Seufzend drehte Cheftu sich um. Niko. Genügte es diesem Menschen denn nicht, dass er durch seinen Schutzherrn über Aztlan herrschte?
»Woran sollte ich mich ergötzen? Aztlan zerstört sich selbst, doch der Rat weigert sich, zusammenzutreten.«
»Ich glaube, du sorgst dich mehr darum, wo sich ein gewisses Sippenoberhaupt aufhalten mag.«
Cheftu fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Wieso sollte ich mich darum sorgen?«
»Möglicherweise, weil Ileana sie ins Labyrinth geworfen hat?«
Cheftu lachte, und zwar von Herzen. »Wieso sollte mich das beschäftigen? Deine Märchen kannst du jemandem erzählen, der sie glaubt.« »Du lachst über mich? Ich habe gesehen, wie du sie anschaust. Wage nicht, meiner zu spotten, denn ich besitze das Wissen! Spiralenmeister magst du getäuscht haben, doch ich habe die Steine! Ich habe das Elixier! Ich habe die Insel besucht!«
Cheftu fuhr mit den Händen über sein Gesicht und zuckte mit den Achseln. »Erzähl mir keine Unwahrheiten über Sibylla, und ich werde nicht lachen.«
»Die Steine sagen, dass sie sterben muss.«
»Was für Steine?«
»Die sprechenden Steine.«
Cheftu wurde still. Von Steinen war auch in der Kammer die Rede gewesen, in der er sich den verschiedenen Prüfungen unterzogen hatte. Von mystischen Steinen, die es den Aztlantu ermöglichten, an ihren einstigen Gott Fragen über ihr Volk zu stellen. »Trinkst du einen Becher Wein mit mir?«
»Glaubst du, ich bin so töricht, dein Gift zu trinken?«
»Nein. Ich glaube, du weißt, dass ich nicht so töricht wäre, dich in meinen eigenen Gemächern vergiften zu wollen«, ent-gegnete Cheftu mit ätzender Bosheit. Er trat vom Fenster weg und schenkte einen Becher Wein ein.
»Erzähl mir von dieser Insel.«
»Du kannst sie nicht finden.« Niko spazierte im Zimmer herum, betastete alle möglichen Gegenstände, fuhr mit dem Finger über die Möbel. Er meint, diese Kammer, diese Dinge stehen eigentlich ihm zu, erkannte Cheftu. Das hier ist schmerzlich für ihn.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es würde.«
»Ich wurde dorthin gebracht, bis vor den Altar mit dem Bogen und den bemalten Pflastersteinen.«
Hustend wiederholte Cheftu: »Dem Bogen?«
»Genau. So elegant, wie ihn die Skolomantie nur errichten kann. Roter Stein, der in den Himmel aufragt und den Ort beschützt, an dem die sprechenden Steine lagen. Ihr Gott schenk-te mir eine Vision und lud mich ein, zu ihm zu kommen.«
Irgendwie bezweifelte Cheftu, dass die Einladung tatsächlich so gemeint gewesen war, doch Niko sollte keinesfalls aufhören zu erzählen. Ein roter Steinbogen, war das vielleicht der Ausweg? Aus dieser Zeit? War dies das
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