Die Seherin von Knossos
klang fremd in seinen Ohren, und er spürte, wie sein Körper sich immer weiter versteifte, je mehr sie von ihrer weißen Haut entblößte. Er hasste sie dafür, dass sie dieses Gefühl in ihm auslöste, diese Hitze, diese Benommenheit.
»Verehre mich, Niko.«
Phoebus kniete an Eumelos’ Bett. Mit zittrigen Fingern kämmte er das Haar aus dem Knabengesicht. Wo blieb Niko nur? Was war mit seinem Versprechen? Seinem Eid? »Es wird alles gut, mein Sohn«, sagte er. »Du wirst wieder gesund. Niko hat es geschworen. Niko hat noch nie sein Wort gebrochen, du wirst wieder gesund.«
Eumelos’ blaue Augen waren starr vor Angst, und sein Atem ging rasselnd und keuchend. Wie viele Dekane waren vergangen? Was für eine Krankheit konnte so unvermittelt ausbrechen? Bestimmt war es nicht die Seuche. Der Junge gehörte nicht zu Zelos’ Kabinett, woher sollte er sie also haben? »Wenn alles vorbei ist, fliegen wir mit dem Flugsegel«, versprach er. »Erinnerst du dich an Dions Flugsegel?« Er wartete Eumelos’ ruckartiges Kopfschütteln ab. »Wir werden über die Insel segeln, sodass du ganz Aztlan und Kallistae sehen kannst, und die Pyramide wird so klein sein, dass sie wie ein Spielzeug aussieht! Wird das nicht schön, Eumelos? Würde dir das gefallen?« Wieder ruckte der Junge mit dem Kopf, doch diesmal ergriffen die Zuckungen seinen ganzen Körper, bis Phoebus sich halb über ihn legte, nur um ihn zur Ruhe zu zwingen. Er löste sich wieder, wobei er sich alle Mühe gab, nicht zu weinen. Sein Sohn wurde immer kranker. Die Anfälle kamen heftiger und in kürzeren Abständen. Wo steckte Niko nur? »Aber erst musst du gesund werden, Eumelos. Du musst gesund sein, wenn wir das tun. Kannst du gesund werden?«
Tränen flossen über die braunen Wangen des Jungen, der den Mund aufklappte, um einen Ton herauszupressen. Das Klicken seiner Kehle und seiner Zunge jagte Phoebus schreckliche Furcht ein, sodass er ihn hoch hob und ihn auf sein Bein setzte, um ihm das Atmen zu erleichtern. Eumelos blieb schlaff, sein Leib sackte zuckend zusammen, sein Mund klappte auf und zu, ohne dass ein Laut herausdrang.
»Niko bringt gleich Medizin, mein Sohn«, versicherte ihm Phoebus. Er war überzeugt, dass Niko mit dem Elixier zurückkehren würde, das auch ihn gerettet hatte. »Niko kommt gleich zurück, wir müssen nur auf ihn warten. Nur warten.« Er drückte den zerbrechlichen Körper des Jungen an seine Brust und wiegte ihn hin und her. »Kannst du dich noch an das Mittel erinnern, das er mir gegeben hat? Du wirst es auch gleich bekommen. Dann wird es dir wieder besser gehen, Eumelos. Dann wirst du nie wieder krank. Du wirst athanati.« Er lächelte unter Tränen. Selbst wenn er dafür Aztlans Fundamente umstürzen musste, Eumelos würde nach ihm regieren.
Für seinen Sohn konnte er sein Leben geben.
Eumelos begann zu würgen, er kratzte mit zu Klauen verkrümmten Händen an Phoebus, sein Blick huschte in Todesangst hin und her. Als sein Gesicht blau anlief, rief Phoebus um Hilfe, er rief nach dem Spiralenmeister, während er Eume-los’ Kopf hoch zu halten versuchte, um ihm Luft zu verschaffen. Der Junge schlug pfeifend um sich, rang mit zuckendem Körper um Atem, die Augen auf Phoebus geheftet. Du hast es versprochen, schienen sie zu sagen. Du hast es versprochen, und jetzt brichst du deinen Schwur.
Leibeigene halfen Phoebus, Eumelos ruhig zu halten, doch immer noch bekam der Junge keine Luft, seine Augen wurden schon glasig. »Nein! Nein!«, brüllte Phoebus, riss Eumelos’ Mund auf, bog seinen Hals durch. Kein Laut, keine Luft.
Sein Sohn erschlaffte, sein flatterndes Herz blieb still, seine Augen blickten auf einen neuen Horizont.
Er hatte seine Reise angetreten.
Cheftu begegnete Nestor im Gang, und gemeinsam liefen sie zu den Gemächern des Goldenen. Das Weinen schlug ihnen entgegen, noch ehe sie um die letzte Kurve waren, und dann sah Cheftu die offenen Türen und die zahllosen blau gekleideten Nymphen im Gang.
Die Farbe der Trauer.
Sobald er den Raum betrat, erfuhr er, dass Phoebus an einen unbekannten Ort verschwunden war. Hreesos’ Gesicht sei bis zur Unkenntlichkeit von Gram entstellt, ein grauenvoller Anblick. Nestor trat an das Bett und tauschte einen Blick mit
Cheftu. Das Kind war tot.
»Kalo taxidi«, sagte Nestor und schloss dem Knaben die blinden Augen. »Hat man ihn gebadet?«
»Nein, Meister. Hreesos hat uns das verwehrt«, antwortete der Priester. »Er hat behauptet, Eumelos würde nicht sterben.«
Cheftu
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