Die Seherin von Knossos
dürren Oberarme gewunden. Als er an die Liege trat, zuckte der Patient zusammen und zog sich zurück.
»Bist du jetzt stärker?«, fragte der Priester.
Der Mann blinzelte. Die Sprache fühlte sich ... eigentümlich an. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und nickte. »Ja, Herr.« Seine Stimme klang rau, als wären seine Stimmbänder während der langen Untätigkeit eingerostet. Der Priester klatschte in die Hände, und der Junge, der dem Mann den Verband abgenommen hatte, verschwand, um gleich darauf mit einem Tablett zurückzukehren. Der Junge war dürr wie ein Skelett: Der Mann konnte seine Rippen zählen.
»Du bist in Noph«, sagte der Priester. »Nimm das und iss .«
»Nimm und iss, nimm und iss .« Eine weitere Litanei, doch diese hier vermittelte ihm das Gefühl, willkommen zu sein, gerettet zu sein, Erfüllung gefunden zu haben. Der Mann nahm die Schale und stopfte die Mischung aus Getreide und Fisch in seinen Mund. Das Fleisch war sehnig und trocken. Wäre der Mann nicht halb verhungert gewesen, hätte er den Fraß weggeworfen. Wusste Pharao, ewig möge er leben!, was seine Priester aßen? Oder nicht aßen, dachte der Mann, als er merkte, wie die Augen des Jungen jeder seiner Bewegungen folgten. Er setzte die Schale ab und tastete nach einer Fingerschale. Wie unzivilisiert dieser Tempel war!
»Welchen Tag haben wir, Herr?«, fragte der Mann.
Der Priester sah ihn erst überrascht, dann erfreut an. »Den zweiten Monat des Pert, im dritten Sommer der Vielbeweinten Überschwemmung.«
Aus irgendeinem Grund bekam der Mann panische Angst.
»Der Vielbeweinten Überschwemmung?«
»Ja, Herr«, erwiderte der Priester mit leichtem Stirnrunzeln. »Doch die Hungersnot ist eingedämmt, dank der Maßnahmen, die der Wesir Ipiankhu persönlich für Pharao, ewig möge er leben!, getroffen hat.«
Der Mann spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Schweiß brach auf seiner Stirn und seinem Rücken aus. Plötzlich wurde ihm eiskalt, er begann zu zittern. Der Priester trat näher und stopfte ein Leintuch unter den Körper des Mannes. Geübt prüfte der Priester die Temperatur und die Schwellungen. Der Mann entspannte sich, da der Druck auf seiner Brust nachließ.
»Du heilst gut, Herr, ich werde den Hemu neter rufen«, sagte der Priester, dessen Augen vom langen Wachehalten blutunterlaufen waren. »Doch darf ich erst noch einige Fragen stellen, ähm . Herr?«
»Ja?«
»Wer bist du?«
Der Mann öffnete den Mund, doch es kam keine Antwort.
Visionen schossen durch seinen Kopf, chaotische Schlaglichter auf ein Leben, das er als sein eigenes erkannte. Frauen und Männer in schwarzen Perücken und kostbaren Schurzen, die ausgefeilt schöne und komplizierte Kragen um ihre Hälse trugen. Er sah unzählige Rekkit , einfache Menschen, vor einem geteilten Meer stehen. Das Gesicht einer Frau, mit Augen grün wie Gras, tauchte vor ihm auf. Ihre Lippen formten ein Wort, einen Namen, doch er konnte es nicht verstehen. Dann sah er sie wieder, abgerissen und weinend. Kniend, eine Hand über der Brust, die andere ausgestreckt. Ein gleißendes Licht nahm ihm die Sicht ... dann lag der Mann wieder ausgestreckt auf seiner Liege.
»Herr? Wer bist du?«
Der Mann blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an.
»Je ne sais pas.«
Der Mann begriff, dass er Worte ausgesprochen hatte, die er niemals hätte sagen dürfen, dass er ein großes Geheimnis hütete, das er auf gar keinen Fall verraten durfte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, jene Sprache zu sprechen, die auch der Priester sprach.
»Wer bist du?«
»Das weiß ich nicht, Herr.«
Der Priester kniff die Lippen zusammen und nickte schließlich. »Ruhe dich aus, es wird dir schon wieder einfallen.«
Er verschwand, und der Mann lehnte sich zurück, keuchend, als wäre er eben ein langes Rennen gelaufen. Am kleinen Finger seiner rechten Hand prangte ein Ring. Da seine Linke immer noch verbunden war, steckte er den Finger in den Mund, zog den Ring mit den Zähnen ab und hielt ihn in seiner Rechten. Als er ihn betrachtete, krampfte sich sein Magen zusammen.
Er war klein und für einen eleganten Finger geschaffen. Noch während seine Augen auf dem Silber und Gold des Ringes mit den Bernsteinsplittern lagen, hörte er Worte in einer anderen Sprache als jener, die er eben verwendet hatte, Worte, von ihm selbst gesprochen, mit eigener, tränenrauer Stimme.
»So unendlich wie dieser Kreis ist meine Liebe zu dir,
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