Die Seherin von Knossos
vergöttern, ich würde nur dafür leben, dir zu dienen.« Er küsste sie auf den Hals, um seine Bitte zu unterstreichen. Vor der Tür schrie ein Pfau.
Wie lästig, dachte Ileana. Sie wollte den gut aussehenden Jungen nicht vor den Kopf stoßen, vielleicht brauchte sie ihn ja noch, doch seine Zärtlichkeiten waren zeitraubend, und Zeit hatte sie nicht. Sie hatte ihn ausgewählt, weil er den Eindruck erweckt hatte, in sich zu ruhen, so als sei er zu stolz, um sich zu verlieben. Sie konnte keine Gefühle brauchen. »Priamos, Lieber -«, sie verzog innerlich das Gesicht -, »ich muss zum Tempel. Du musst fort, damit ich nach meinen Leibeigenen schicken kann.«
»Ich will dein Leibeigener sein, Ileana. Ich möchte dich anziehen, dich waschen -«
Sie stand auf. »Geh, Priamos.«
Er errötete aufs Niedlichste und kleidete sich an, den Rücken ihr zugewandt. Bitte, Kela, sag mir, dass ich sein zerbrechliches Ego nicht verletzt habe. Seine Schultern wirkten verspannt, darum drehte sie ihn um und küsste ihn mit allem, was sie an Technik aufzubieten hatte. Er war ein phantastischer Liebhaber, er musste nur noch lernen, wann er zu verschwinden hatte. »Komm heute Nacht zu mir«, flüsterte sie in sein Ohr, dann klatschte sie ihm zum Abschied auf den festen Hintern. Der Pfau schrie schon wieder.
»Bis mein Auge dich wieder erblickt«, setzte er an.
»Genau. Bis dann.«
Sie schloss die Doppeltüren hinter ihm, ließ dabei ihr Schoßtier ein und schnippte dann nach ihrem Leibeigenen. Hatte
Priamos’ Samen in ihr Wurzeln getrieben? Bot sie überhaupt schon fruchtbaren Boden? Nach einem Bruchteil ihrer sonst üblichen Toilette wurde Ileana in einen verhängten Tragsessel geschoben und über die gepflasterte Straße zur Kela-Ata, der Hohepriesterin, getragen.
Überall waren die ersten Anzeichen des Frühlings, der Zeit des Stieres, zu erkennen. Der leise Hauch von Grün auf den Hügeln, die knospenden Blumen. Ach, möge doch Priamos’ Samen bewirken, dass ich wie der Frühling werde, dachte sie. Dass ich voller Frucht und Fruchtbarkeit bin! Sobald sie innerhalb des weitläufigen, von roten Säulen umsäumten Tempelkomplexes angekommen waren, stieg Ileana aus dem Sessel und zog ein fein gewebtes Tuch über ihr Haar und ihr Gesicht. Sie würde Kela genauso namenlos gegenübertreten wie jede der vielen hundert Frauen, die sie täglich aufsuchten.
Sie wartete in einer Reihe mit den anderen und beobachtete, wie die Frauen, jung und alt, sich aufteilten. Jene, die eine medizinische Behandlung durch die Hände der Kela-Tenata brauchten, wurden zu Untersuchungszimmern und zu Apothekern im entferntesten Drittel des Tempels geschickt.
Wessen Sexualität neu geweckt werden musste oder wer sich nach einer Erfüllung verzehrte, die Gemahl oder Liebhaber nicht geben konnte, wurde in die kleinen, schmucklosen Kammern geschickt, wo die Tempeltänzerinnen ihre Künste ausübten. Muschel sucherinnen eilten im Tempel hin und her, ihren Fang schleppend und den scharfen Geruch von Fischköpfen und Salzwasser hinter sich herziehend. Es war kaum zu glauben, dass die verhätschelte, parfümierte Vena einst braun und sehnig gewesen war wie diese Mädchen.
Ileana entspannte mit Bedacht ihren Kiefer, damit sie bei dem Gedanken an Vena nicht unwillkürlich die Zähne zusammenbiss. Die Frau war eine gefährliche Rivalin um Ileanas Position. Ob sie wohl für das Rennen übte?
Ileana war an der Reihe.
»Herrin, wie kann Kela dir behilflich sein?«
Als Antwort teilte Ileana ihr Tuch und zeigte dem Mädchen das goldene Siegel der olympischen Sippe. Die junge Frau schluckte, weil sie nicht wusste, ob sie sich verbeugen oder salutieren sollte, und entschied sich dann für ein unsicheres Lächeln. »Sie erwartet dich«, sagte sie. Während Ileana in den schmalen Gang trat, der zwischen zwei Bereichen des Tempels abzweigte, hörte sie noch, wie die junge Frau die nächste in der Reihe befragte.
Die Kela-Ata gehörte ihr. Die Frau verdankte ihre Position ausschließlich Ileana, und die Himmelskönigin ließ sie das nie vergessen. Als Ileana erst zwei Sommer lang Muttergöttin gewesen war, hatte sich die damals herrschende Kela-Ata gegen sie gestellt. Sie hatte eine Vision gehabt: Sie wusste, dass Ileana Rhea getötet hatte.
Nach kurzem Überlegen legte Ileana der Kela-Ata eine volle Beichte ab und spielte die Rolle der reuigen Sünderin. Nach einem Schwur auf den Dreizack und die Muschel schenkte sie ihnen beiden Wein ein. Einen Rhyton hatte sie
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