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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Ein, aus. Tag, Nacht. Es gibt nichts dazwischen.«
    »Nichts als das langweilige, heuchlerische, alltägliche Leben. Den meisten Menschen reicht das, doch sie leben nicht wirklich. Es ist eher der lebende Tod auf der Cocktailparty.«
    »Was bedeutet es denn, wirklich lebendig zu sein?«, fragte Ernessa.
    »Keine Angst zu haben.«
    »Ist das alles? Dann könntest du anfangen, indem du deinen heiß geliebten Nietzsche aufgibst. Wirklich lebendig zu sein fühlt sich komplett anders an. Wie eine Ekstase, in der man sich nicht selbst verliert.« Ernessa wandte sich an Kiki und fügte hinzu: »Wie ein Orgasmus mit weit geöffneten Augen.«
    Dora wandte sich von Ernessa weg und sprach uns Übrige an: »Sie ist eine falsche Prophetin. ›Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber: kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein, denn ihr sollt erlöst werden.‹«
    »Die Geburt der Tragödie« ,sagte Ernessa.
    Wir waren sprachlos.
    Sie teilten ein Geheimnis, von dem ich ausgeschlossen war. Ich musste später in die Bibliothek gehen und das Zitat nachschlagen. Ich kriegte es schon nicht mehr richtig zusammen.
    Niemand lachte auch nur.
    »O nein, nicht schon wieder der Thyrsusstab«, meinte Kiki. »Das Original ist mir lieber.« Und sie stand auf und ging. Ich stellte mir Dora in ihrem Zimmer vor, wie sie sich in ihren Nietzsche vertiefte, Zitate auswendig lernte, damit sie uns Plebejer damit beschämen konnte. Ernessa lieferte ihr die perfekte Gelegenheit zum Angeben.
    Die Glocke läutete zur Arbeitsstunde. Alle drückten ihre Zigaretten aus und eilten nach oben. Ich verließ den Aufenthaltsraum als Letzte. Ich starrte auf das verlassene blaue Plastiksofa, das immer an unseren verschwitzten Beinen klebt, und hoffte, es möge etwas enthüllen, das mir während des Gesprächs entgangen war. Vergeblich. Ich wünschte, ich wäre wie Ernessa und könnte es mit Dora aufnehmen. Doch selbst wenn ich verstanden hätte, worüber sie gesprochen haben, würde Dora mich nicht ernst nehmen. Sie will es einfach nicht. Wenn Ernessa redet, kann niemand sie ignorieren.
    Ich werde bei Gelegenheit Miss Norris fragen. Sie kann mir sicher etwas dazu erklären.
6. Oktober
    Ich fühle mich unglaublich zu. Das ist das einzige Wort, das es trifft. Nichts kann in mein Gehirn vordringen.
    Ich habe mein Tagebuch mit in den Griechisch-Unterricht genommen und Miss Norris (in leicht zensierter Form) vorgelesen, was ich von der Diskussion gestern Abend aufgeschrieben habe. Als ich fertig war, sagte sie: »Liebes, du musst verstehen, dass das Griechenland der großen Tragödien eine außergewöhnliche Welt war. Die widersprüchlichsten Dinge waren miteinander verbunden. Kulte, Magie und frühe Wissenschaft. Rationalität und Irrationalität. Schönheit und Gewalt. Gegensätze waren wie Zwillinge. Selbst Plato ist voll mit den sonderbarsten Ideen. Für mich hört es sich an, als betrachtete deine Freundin Ernessa sich als dionysisch, als Seele in ständigem Aufruhr, der es dennoch gelingt, klar zu sehen und die Kontrolle zu behalten.«
    Sie hielt inne und lächelte mich an. »Das alte Griechenland ist unserem Denken so fremd, Liebes. Wir neigen dazu, es so zu formen, wie es uns passt. Wie unsere Träume.«
    Ich wollte ihr sagen, dass Ernessa keinesfalls meine Freundin war, erklärte aber stattdessen, ich verstünde nicht genau, was sie meine. Was bedeutete das ganze Gerede von wegen dionysisch und apollinisch?
    »Schreib in dein Tagebuch, was ich gesagt habe. Wir kommen später darauf zurück.«
    Ich bin einfach nicht so klug wie Dora und Ernessa und mag keine Philosophie lesen.
7. Oktober
    Ernessa fragt mich nicht mehr, ob ich sie beim Frühstück eintragen kann. Sie muss jemand anderen dafür gefunden haben. Ich sagte zu ihr: »Du solltest zum Frühstück aufstehen. Du verpasst die beste Mahlzeit des Tages. Mrs. Wing kommt um vier Uhr morgens, um Zimtbrötchen, Streuselkuchen und Donuts zu backen. Ich kann die frischen Brötchen bis in mein Zimmer riechen. Das hilft mir beim Aufstehen.«
    »Diese Art Essen interessiert mich nicht«, sagte sie. »Es ist zu süß mit dem ganzen Zucker. Der weiße Tod.«
    Welche Art Essen interessiert sie dann? Mittags kommt sie nie. Nach dem Unterricht geht sie sofort auf ihr

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