Die Sehnsucht der Falter
ich auf die grauen Wellen hinunter und sagte mir dauernd: ›Spring doch. Spring doch.‹ Aber es war zu kalt. Ich kam so an wie du, mit dem gleichen Geheimnis. Die Leere führte mich herein. Die Dämmerung begleitete mich. Ich kam in mein Zimmer mit eigenem Bad und Kamin. Es war Herbst. Der 10. Oktober. Strahlender Sonnenschein. Das Brangwyn Hotel. An den wärmsten Tagen tranken wir auf der Veranda Tee. Bald wurde es zu kühl. Man musste in meinem Zimmer Feuer machen. Aber mir war noch immer kalt. Ich lag mit Wärmflaschen im Bett, doch meine Füße waren Eisklötze. Ich bekam sie einfach nicht warm. Meine Mutter und ich kamen her, damit mindestens ein Ozean uns von ihm trennte. Meiner Mutter gelang es, sich zu erholen. Sie fand hier sogar einen neuen Ehemann. Doch für mich war ein Ozean gar nichts. Er streckte den Arm aus und nahm mich mit. ›Hier gibt es nichts für dich.‹ Ich konnte seine Worte hören –«
Ernessa ist alt, ganz alt. Ihr Leben wiederholt sich genau wie Lucys furchtbare Erlebnisse, springt immer an derselben Stelle zurück, wieder und wieder. Der Mondschatten. Sie wartet, bis auch mein Leben so festgefahren ist.
Ich stürzte aus dem Zimmer, den Flur entlang, die Hintertreppe hinunter und hinaus in den Schnee. Carol muss mir nachgekommen sein, denn sie war bei mir draußen, wollte mich überreden, ein Sweatshirt überzuziehen. Ich trug nur Schlafanzug und Pantoffeln. Es war kalt, auf dem Boden lagen mehrere Zentimeter Schnee, aber ich wollte kein Sweatshirt. Ich wollte den Frost spüren, überall auf der Haut. Wenn es kalt ist, tun mir immer Hände und Füße weh, doch jetzt brauchte ich die Kälte. Ich rannte die Auffahrt hinunter. Als Carol mich eingeholt hatte, rieb ich mir gerade Gesicht, Hals und Brust mit Schnee ein. Ich wollte etwas wegreiben, das an meiner Haut haftete: Haschgeruch.
Wir gingen zum unteren Sportplatz, um den Schuppen herum und wieder die Auffahrt hinauf. Die Wirkung des Haschischs ließ nach. Ich zitterte und zog das Sweatshirt über. Carol sagte nichts. Sie hielt mich nur am Arm fest. Sie sah erschrocken aus.
Als wir vor der Tür standen, wollte ich nur noch in mein Zimmer laufen, mich ins Bett legen und ewig schlafen. Ich wusste, es würde Stunden dauern, bis mein durchgefrorener Körper wieder warm war. Ich konnte kaum aufrecht stehen. Aber die Tür war zu.
»Scheiße«, sagte Carol. »Ich hatte das Holz dazwischen geklemmt. Ich kann nicht glauben, dass der Nachtwächter sie einfach zugemacht hat. Das tut er doch nie.«
»Tut mir Leid, tut mir Leid«, murmelte ich. »Ich wollte nicht, dass du so sterben musst.«
»Was redest du da, verdammt nochmal? Ich habe wirklich keine Lust, hier erwischt zu werden. Nicht gerade jetzt. Das ist doch albern.«
Ich weiß nicht, wie lange wir draußen standen, mit den Füßen aufstampften und fluchend im Kreis liefen. Schließlich kam Claire, um nach uns zu sehen, und machte die Tür auf.
Ich schlief. Doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich noch immer stoned. Konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich bin noch nicht auf dem Boden. Ich kann es nicht ertragen, wenn ich die Kontrolle über mich verliere. Ich hatte vor, an diesem Wochenende Bleakhaus zu lesen, kann aber nicht richtig denken. In dem Hasch muss noch was anderes gewesen sein. Von Haschisch bekommt man doch keine Halluzinationen.
Ich weiß, was in dem Stoff war – die Zukunft. Das Hasch war mit Zukunft getränkt. Der Zukunft, in der sich alle verändern und in jemand anders verwandeln. Ich werde ein Mensch, der mir gar nicht gefällt. Doch das ist egal, weil dieser Mensch mich völlig vergessen haben wird. Ich werde nicht länger existieren. Es ist schlimmer als sterben. Es heißt, dass mein jetziges Leben gar nicht wirklich geschieht.
Werde ich verrückt? Wie kann ich feststellen, ob ich den Kontakt zur Realität verliere oder Dinge sehe, die tatsächlich über die Realität hinausgehen? Alles geht über die Realität hinaus. Niemand hier kann es mir erklären.
Letztes Jahr habe ich erlebt, wie Annie Patterson die Kontrolle über sich verlor. Danach war sie nicht mehr wie vorher. Es war bei einem Chorkonzert. Sie stand in der hintersten Reihe, weil sie so groß war. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, konnte nicht stillstehen. Sie hatte beim Singen den Kopf zur Seite geneigt. Es war zu mühsam, ihn gerade zu halten. Ihr langes schwarzes Haar, das früher so dicht gewesen war, bedeckte nicht mal mehr die Ohren. Ein Ohr ragte daraus
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