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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Haar heraus. »Ah, meine kleine Übeltäterin. Dachte ich doch, dass ich dich gehört habe, Liebes.«
    Das Licht strömte aus der offenen Tür und fiel auf uns beide. Ich hörte die Vogelstimmen hinter Miss Norris, ein dissonanter Chor. Ihr weißes Haar schimmerte wie ein Heiligenschein. Ernessa trat aus dem Licht. Ich ging eilig auf Miss Norris zu, und sie zog mich zu sich herein.
    Sie gibt mir die Schuld an Doras Tod und der Tatsache, dass der Unfall oder was es auch gewesen sein mag, die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hat. Dabei hatte ich Dora davon abhalten wollen, aber sie hat nicht auf mich gehört.
    Diesen Satz fand ich zu Hause in einem der Bücher meines Vaters: »Der Vampir kennt alle Geheimnisse und die Zukunft.« Sie braucht kein Hasch. Wir brauchen es, damit wir in ihre Zeit eintreten können.
    Jemand ist an der Tür. Ich lege Stift und Tagebuch weg.
22. Januar
    Mr. Davies passte mich im Flur ab. Ich glaube, er hatte nach mir gesucht.
    »Du hast dich nicht für meinen Lyrik-Kurs eingetragen«, sagte er, als beschuldigte er mich eines furchtbaren Verbrechens.
    »Mir ist im Moment nicht danach, Gedichte zu schreiben«, sagte ich. Dabei hatte ich nie vorgehabt, in diesen Kurs zu gehen. »Ich habe ›Die Verantwortung in der Literatur‹ gewählt.«
    »Was liest du dafür?«
    »Daniel Deronda und Bleakhaus. Mir ist zur Abwechslung mal nach richtig dicken Büchern. Und nach Realismus.«
    »Aber du hast doch im Kurs so überzeugend dargelegt, dass Schriftsteller ihre Geschichten immer real werden lassen. So leicht kannst du dich dem Übernatürlichen nicht entziehen. Der Schriftsteller erfindet immer, er glaubt an die Wahrheit des Unsichtbaren«, sagte Mr. Davies. »Dickens war vom Übernatürlichen fasziniert.«
    Zu meiner Überraschung kam ich mir vor, als hätte ich Mr. Davies enttäuscht. »Tut mir Leid«, murmelte ich. »Ich konnte Ihren Kurs nicht wählen. Er passte nicht in meinen Stundenplan.«
    »Die Bücher werden dir ganz bestimmt gefallen. Miss Watson hat Glück, dich in ihrem Kurs zu haben. Aber denk an mich, auch wenn du keinen Unterricht mehr bei mir hast. Besuch mich, dann reden wir über Gedichte, wenn du schon keine schreiben möchtest.«
    Ich lächelte.
    »Das meine ich ernst. Du fehlst mir.«
    Ich war ihm aus dem Weg gegangen.
    An jenem Tag war ich wie ein Kreisel, der aufhört, sich zu drehen, auf seiner Achse wankt. Ich spürte, wie ich auf Mr. Davies zu kippte, dann zurückprallte.
    Meine Lehrerinnen haben mich alle auf dem Kieker. Miss Simpson war sauer, weil ich unvorbereitet zur Klavierstunde erschien. Früher kassierte ich mühelos Einsen, jetzt komme ich nicht mehr mit. Ich würde lieber Tagebuch schreiben, statt Hausaufgaben zu machen.
    Lucy war drei Tage nicht bei der Versammlung und hat eine Woche Nachsitzen bekommen. Sie sagt, sie sei morgens zu müde zum Aufstehen. Sie verschläft das Klingeln. Sie versteht nicht, wieso sie ständig müde ist. Heute Morgen wollte ich sie wecken und bekam sie nicht aus dem Bett. Als wäre sie unter Drogen. Als ich sie an der Schulter rüttelte, rollte ihr Kopf auf dem Kissen hin und her. Ihre Augenlider flatterten wie graue Motten. Sie konnte sie nicht öffnen. Ich ging zum Frühstück und trug sie ein. Danach ging ich nach oben und zerrte sie aus dem Bett, damit sie nicht schon wieder die Versammlung verpasste. Ich hatte einen Doughnut dabei, aber sie hat ihn nicht gegessen. Als ich vor einer Stunde bei ihr hineinschaute, lag er noch immer in eine Serviette gewickelt auf der Kommode. Sie hatte ihn nicht angerührt. Auch beim Mittagessen tauchte sie nicht auf. Vermutlich hat sie in ihrem Zimmer Hausaufgaben gemacht. Sie sagt, sie hinke wirklich hinterher, und nächste Woche steht eine große Chemiearbeit an. Ich werde mit ihr üben müssen. Aber ich will nicht.
23. Januar
    Gestern habe ich gar nicht erwähnt, dass wir die Noten fürs erste Halbjahr bekommen haben. Ich habe lauter Einsen. Lucy hat so schlecht abgeschnitten, dass sie es mir gar nicht sagen wollte. Ich glaube, sie hat eine Fünf in Chemie. Es tut mir so leid. Ich wüsste gern, was Ernessa bekommen hat.
    Ich spürte nicht die übliche Aufregung, als ich mein Zeugnis aus dem Umschlag holte und das steife Papier auseinander faltete. Ich hatte diese Einsen nicht verdient. Meine Lehrerinnen haben sie mir gegeben, weil sie einfach erwarten, dass ich gut bin, so wie sie bei Lucy damit rechnen, dass sie schlecht ist. Die Kommentare waren gar nicht so toll. Alle außer Mr. Davies

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