Die Sehnsucht der Falter
hervor. Ihr Gesicht war farblos, bis auf die rote, geschwollene Nase. Sie sah aus wie ein krankes Tier. Nach dem Konzert stieg sie vorsichtig von ihrem Podest, schwankte dabei. Sie war unglaublich dünn geworden. Ich hätte nie gedacht, dass jemand so kleine Knochen haben kann. Die alte Annie war verschwunden. Verschwunden mit dem Fleisch, den Muskeln, dem Fett. Doch wohin verschwinden diese Dinge, wenn die Energie im Universum erhalten bleibt?
Sie war in ein riesiges schwarzes Loch gestürzt und kam nicht mehr heraus. Es war ein Unfall. Sie hatte neugierig hineingestarrt, und dann ist sie gestürzt. Ich habe sie nie wieder gesehen. Beim Frühstück hörte ich, wie eine ihrer Freundinnen sagte: »Sie lebt ihr Leben, als wäre es ein Roman, den sie eines Tages schreiben will.«
Nach dem Abendessen
Als ich zum Abendessen herunterkam, lachten alle darüber, dass ich so ausgeflippt war. Ich wollte weglaufen und weinen, doch dazu war ich zu hungrig. Ich hatte das ganze Wochenende nichts gegessen. Ich war am Samstag und Sonntag in meinem Zimmer geblieben und hatte gesagt, ich sei krank. Ich war so erschöpft, dass ich fast nur geschlafen habe. Am Sonntagabend gab es wie immer ein Büfett, sodass ich schnell essen und abhauen konnte. Ich aß gierig. Ich konnte mir das Essen gar nicht schnell genug in den Mund stopfen und dann nicht mal ruhig kauen, bevor ich es schluckte. Mein Hunger war unnatürlich. Ich aß zwei gehäufte Teller, ohne ein Wort zu sagen. Dann rannte ich wieder in mein Zimmer. Ich ging nicht in den Aufenthaltsraum, obwohl wir am Sonntagabend eine Stunde länger bleiben dürfen und alle hingehen. Ich verkroch mich in meinem Zimmer. Ich bin überzeugt, dass etwas in dem Haschisch war. Allerdings verstehe ich nicht, warum ich als Einzige so reagiert habe. Aber sie sind gerne stoned, das kann ich nicht begreifen.
Lucy hat gerade hereingeschaut, um zu sehen, ob es mir besser geht, und ich sagte, ich wolle allein sein. Ich liege auf dem Bett, das Tagebuch unter der Decke. Ich kämpfe gegen das Erbrechen. Wenn ich ganz still liege und die Wellen der Übelkeit über mich hinwegrollen lasse, geht es vorbei. Ich will tief in meinen Schrank klettern und mich hinter den Kleidern verstecken, wie ich es als kleines Mädchen getan habe.
Darum wollte ich nicht zurück in die Schule. Ich hatte Angst, es würde wieder anfangen. Ich kann nicht die Augen zumachen und es wegwünschen.
Ich möchte unsichtbar sein.
19. Januar
In dieser Schule gibt es keine Geheimnisse. Irgendjemand findet es immer heraus. Oder jemand denkt sich etwas aus und redet den anderen ein, es sei wahr. Letztlich ist es also gleich, ob es wahr ist und ob es überhaupt ein Geheimnis gegeben hat.
Als ich zum Abendessen ging, wartete Claire auf mich. Sie sagte, sie müsse nach dem Essen mit mir reden, wir sollten uns im Aufenthaltsraum treffen. Die Art, wie sie sich dramatisch die Löckchen aus der Stirn strich, verriet mir, dass es um Mr. Davies ging. Ich wollte nicht hingehen.
»Ich weiß, du wirst mir nicht glauben«, sagte sie. Sie war mir zu nahe, ich spürte ihren heißen Atem am Ohr. Ich wollte sie wegstoßen. »Gerade du nicht. Ihr redet ja nur über Gedichte.«
»Natürlich«, sagte ich.
»Ich kann dir nicht verraten, wie ich es herausgefunden habe, aber es ist wahr, ganz bestimmt. Mr. Davies und seine Frau schreiben Pornographie. Zusammen.«
»Stimmt«, sagte ich, »ich glaube dir nicht. Ich finde, du machst dich total lächerlich.«
»Frag doch Mr. Davies, wenn du mir nicht glaubst.«
»Was soll das heißen, sie schreiben Pornographie?«
»Für eine Zeitschrift«, antwortete Claire. »Natürlich unter Pseudonym. Er ist ja nicht blöd. Er will seinen Job nicht verlieren.«
»Aber woher willst du das wissen?«
»Wie gesagt, das kann ich dir nicht verraten. Vertrau mir.«
»Warum sollte ich dir vertrauen? Das musst du mir erst beweisen.«
»Nur Geduld«, meinte Claire. »Ich habe den Beweis.«
Ich konnte sie nicht einfach stehen lassen und weggehen.
»Hast du die Zeitschrift gesehen?«
Claire wand sich; beantwortete meine Frage nicht.
»Meinst du, er und seine Frau probieren es vorher im Bett aus?«
»Falls ja, dann nur für Geld. Mir ist egal, ob er so was tut.«
Doch es ist mir nicht egal.
20. Januar
Die Tagesschülerinnen berühren einander nie. Sie finden es abartig, wenn Interne Arm in Arm den Flur entlanggehen. Aber so sind wir eben. Die Tagesschülerinnen finden die Vorstellung, ein anderes Mädchen zu
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