Die Sehnsucht der Falter
schrieben, ich müsse mich mündlich mehr beteiligen. Als ich Mr. Davies’ Kommentar las, wurde ich ganz verlegen. Ich wurde rot, obwohl ich allein im Zimmer war. Es stimmt nicht, aber meine Mutter wird sich freuen.
25. Januar
Heute Morgen verlas Miss Rood in der Versammlung die Namen der Mädchen, die am Freitagnachmittag Sport nachholen müssen. Lucy und Ernessa standen auf der Liste. Lucy, das brave Papakind, das nie Probleme hat, schien gar nicht zu merken, dass Miss Rood sie aufgerufen hatte. Ernessa war stinksauer. Sie drehte sich um und starrte Miss Bobbie an. Lucy musste Ernessa anstoßen, damit sie aufhörte. Das hat sie sehr wohl gemerkt.
Ich betrachtete sie von hinten: Ernessas dunkles, welliges Haar neben Lucys glattem blonden.
Ernessa kommt mit allem durch, nur Blaumachen in Sport geht nicht. Miss Bobbie ist die Einzige, bei der sie sich an die Regeln hält. Das kommt daher, dass Miss Bobbie sie hasst.
Meistens sind es die Tagesschülerinnen, die Jüdinnen hassen. Ich weiß immer, wer lieber nicht neben mir sitzen möchte, weil ich Jüdin bin. Die Stühle links und rechts von mir bleiben frei, bis eine Interne die Klasse betritt. Ich erinnere mich genau an den Schock, als ich so etwas zum ersten Mal erlebte. Ich wollte zum Drugstore neben dem Bahnhof, um mir nach der Schule Cola und Pommes zu holen. Auf dem Bahnsteig standen ein paar Mädchen aus meiner Klasse und einige Jungen. Alle Mädchen hatten schulterlanges blondes Haar, blaue Augen, kleine Nasen – der Typ, der dumm, aber sportlich ist und ganz kurze Trikots trägt, um seine gebräunten, muskulösen Beine zu zeigen, die sich von den weißen Söckchen abheben. Ein Junge schrieb mit Filzstift etwas an einen Pfosten, alle sahen ihm dabei zu. Der Junge hatte krauses rötliches Haar und dunkle Sommersprossen auf der Nase. Er schaute nicht zu mir hin, doch ich fing den Blick eines Mädchens auf, das mich mit leeren blauen Augen anglotzte, während die anderen lachten. Als ich zurückging, war der Bahnsteig leer. Sie waren alle mit dem Zug nach Hause gefahren. Ich sah mir an, was der rothaarige Junge geschrieben hatte. Er hatte ein Hakenkreuz gemalt und die Buchstaben J-U-D-E an die vier Enden geschrieben. Darum war ein Kreis, durch den ein schwarzer Strich ging. Schwarze Zeichen an einem braunen Pfosten, genau da, wo die rissige Farbe abblätterte und das silberne Metall durchkam. Ich zupfte die Farbe ab.
Früher habe ich heimlich Hakenkreuze gezeichnet, um zu sehen, ob ich mich dazu zwingen konnte. Dann zerriss ich das Papier in winzige Fetzen und warf es weg.
Jetzt sind diese Mädchen hübsch, doch später sehen sie aus wie ihre Mütter: dicke Taille, dunkle, ledrige Haut, sie laufen jede Woche in den Schönheitssalon, um sich das Haar aufnorden zu lassen, fahren in holzverkleideten Kombis durch die Gegend und backen Plätzchen für das nächste Hockeyspiel. Ich werde noch immer dünn und jung aussehen wie meine Mutter und keine Familie haben.
Ich habe nie wieder mit diesen Mädchen gesprochen.
28. Januar
Lucy hat ihre Chemiearbeit vergeigt, obwohl wir jede Formel durchgegangen sind.
Wir haben beim Lernen viel Zeit in ihrem Zimmer verbracht. Es war genau wie letztes Jahr, nur machte es diesmal keinen Spaß. Ich musste dauernd denken, dass Lucy mich benutzt. Sie ist nur nett zu mir, weil sie meine Hilfe braucht. Danach existiere ich nicht mehr für sie, jedenfalls nicht so, wie ich es gern hätte. Ich sah, wie sie mit dumpfem Blick auf das Arbeitsblatt starrte, an ihrem Stift kaute und versuchte, in den Wörtern und Zahlen einen Sinn zu erkennen. Sie versteht es nur, wenn ich es ihr erkläre. Danach vergisst sie es sofort wieder. Ich will raus. Ich tappe ungeduldig mit dem Fuß. Ich mache den Mund auf, um ihr zu sagen, dass ich das hier nicht kann. Dass es nicht wie letztes Jahr ist. Dass sie so etwas nicht mehr von mir erwarten kann. Aber wie soll ich ihr erklären, dass ich ihr nicht helfen will, weil Miss Rood am Montag ihren und Ernessas Namen zusammen aufgerufen hat?
Gestern ist sie nach dem Mittagessen eingeschlafen und hat zwei Unterrichtsstunden verpasst. Zum Glück war es Englisch und Französisch, und als sie ihren Lehrerinnen erklärte, was passiert war, zeigten sie sich sehr verständnisvoll. Ich habe sie beim Frühstück eingetragen. Jetzt muss ich dafür sorgen, dass sie nach dem Mittagessen zum Unterricht geht. Sie dürfte eigentlich nicht so müde sein, auch wenn sie vor der Chemiearbeit ziemlich lange aufgeblieben ist.
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