Die Sehnsucht der Falter
Ernessa unterhielt.
»Es geht schneller, als du denkst«, meinte sie mit der Gewissheit, die sie immer zeigt, wenn sie über Leben und Tod und solche Dinge spricht, über die andere Leute nicht reden können.
»Es ist so weit weg«, fügte ich sanft hinzu.
»Du wachst eines Tages auf und bist genau wie sie – und staunst, dass du nicht das Leben geführt hast, das du immer führen wolltest. Glaubst du, dass irgendjemand am Ende zufrieden ist?«
Ernessa wartete auf eine Antwort, die ich ihr nicht geben wollte. Ich sah zur Tür und betete, jemand möge hereinkommen und mich befreien. Warum war die Bibliothek heute Abend so leer? Ihre Fragen waren wie die Mottenflügel.
»Ich würde mich umbringen, wenn ich so würde«, sagte ich schließlich.
»Sie haben zu lange gewartet«, sagte Ernessa. »Sie dachten, sie würden ewig leben.« Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und ging hinaus. In dem Moment, bevor sich die Tür schloss, sah ich sie zum ersten Mal an.
Die Worte, die mich in jener Nacht in meinem Haschrausch in den Schnee hinausgetrieben haben: »Ich sagte mir dauernd: ›Spring, spring.‹ Aber es war zu kalt.«
31. Januar
Unsere Expedition in die Stadt gestern ist nicht so gelaufen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Es war eine Katastrophe, ähnlich wie eine Fahrt in einem gestohlenen Taxi. Wir trafen Charley am Bahnhof. Zuerst waren alle aufgeregt, sie wieder zu sehen. Es war eine neue Charley. Sie trug eine schmutzige Jeans mit Schlag, eine verblichene Jeansjacke mit einer aufgenähten amerikanischen Flagge auf dem Rücken und ein rotes Bandana um den Kopf. Mir kam es vor, als hätte sie sich die Haare nicht mehr gewaschen, seit sie die Schule verlassen hat, so fettig und strähnig sahen sie aus.
Als sie uns sah, hob sie die Faust und schrie: »Alle Macht dem Volk – auf zu Wanamaker’s.« Wir brüllten und hüpften über die breiten Gehwege der Broad Street.
Unterwegs kamen wir an einem großen Plattenladen vorbei. Charley rief: »Kommt, wir werfen einen Blick rein«, und war schon drin, bevor jemand widersprechen konnte. Wir gingen hinterher. Ich hielt mich im Hintergrund, während die anderen die Platten in den Kisten durchgingen. Plötzlich wirkte Lucy lebhaft. Sie schaute sich die Alben an und sang vom Mondschein, der sie verfolge. Schon wieder Cat Stevens. Sie wiederholte die Worte ständig, sang in einem leisen Summton, der wie eine Beschwörung klang. Moon shadow moon shadow moon shadow.
Im Kaufhaus quetschten wir uns mit Sofia in eine Umkleidekabine. Lucy ließ sich erschöpft in eine Ecke fallen. Vielleicht lag es an der seltsamen Beleuchtung in der Kabine, die einen so furchtbar aussehen lässt. Lucys Haut war richtig grau, ihre Augen blickten stumpf.
Wir hatten Charley vor Weihnachten das letzte Mal gesehen. Sie erzählte uns Geschichten über ihre neue Schule, vor allem über die vielen verschiedenen Drogen, die sie im vergangenen Monat ausprobiert hatte. »Ich habe ein ganz neues Alphabet gelernt«, sagte sie. »LSD, MDA, DMT, PCP, THC. Der totale Gehirnfick.«
Ich glaube, wir alle waren enttäuscht, dass sie uns und die Schule überhaupt nicht vermisste. Wir sagten wenig. Nur Claire wollte mehr über die Drogen hören. Sie wollte wissen, wie sie sich welche beschaffen konnte.
»Ich würde dieses Zeug nicht in der Schule ausprobieren«, meinte Charley. »Da ist es zu gruselig. Die Sache mit Dora war echt hart. Sie hat immer davon geredet, sich umzubringen, aber ich habe das nie ernst genommen. Ihr wisst doch, wie sie immer über Philosophie und Bücher und so gequatscht hat. Ich hab einfach nicht mehr hingehört. Ich meine, es ist eine Sache, darüber zu reden, und eine andere, es wirklich zu tun. Die Notbremse zu ziehen.«
Lucy war weiß geworden, sie atmete ganz schnell. Ich wartete, dass etwas passierte.
»Niemand will über … über ihren Unfall reden«, sagte ich.
»Sorry«, sagte Charley, »ich wollte euch nicht runterziehen. Die neue Schule ist cool. Ich muss keinen Strich was tun. Aber der Stoff ist nicht so klasse wie früher bei uns.«
Dann sah sie sich die Kleider an, die Sofia an den Haken gehängt hatte. Sie wollte sie im Frühling zum Tanztee anziehen. »Das sind total kapitalistische Oma-Fummel. Wenn die Revolution erst da ist, lauft ihr rum wie ich!«
Wir lachten über sie.
Sofia probierte die Kleider an, fand sie aber zu kurz, sie sehe fett darin aus. Sie schaute in den Doppelspiegel und beklagte sich über die Zellulitis an ihren Oberschenkeln. Was ist
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