Die Sehnsucht der Falter
einen Rosenstamm mit grünen Blättern, rötlichen Knospen und langen, braunen Dornen. Sie hielt ihn fest zwischen den Oberschenkeln, und ich musste ihn ausreißen, wobei ich ihr Fleisch verletzte. Blut rann über ihre Schenkel und sickerte ins Laken.
2. Februar
Gestern Nacht wurde Lucy auf dem Weg ins Bad ohnmächtig. Ich hörte den Aufprall und rannte in ihr Zimmer. Sie lag auf dem Boden und war kaum bei Bewusstsein. Sie wollte nicht, dass ich sie mitten in der Nacht auf die Krankenstation brachte, und beharrte am nächsten Morgen darauf, dass es ihr viel besser gehe. Ich schickte sie trotzdem hin. Falls sie nicht ginge, würde ich der Krankenschwester sagen, was passiert war. Sie war richtig wütend auf mich, ist aber hingegangen. Ich bin froh, dass ich sie dazu gezwungen habe.
Die Krankenschwester behielt sie da. Morgens wurde sie vom Arzt untersucht, der erklärte, ihr fehle nichts, das ein bisschen Ruhe nicht heilen könne. Sie muss ein paar Tage dort bleiben. Er wollte sichergehen, dass sie vernünftig isst. Mrs. Halton wird mit ihren Lehrerinnen sprechen.
Nach der Schule bin ich zum Blumengeschäft gelaufen und habe Lucy einen Strauß rote Tulpen gekauft. Ich habe die leuchtendsten Blumen genommen, die ich finden konnte. Sie haben ein Vermögen gekostet, aber ich weiß, wie sehr Lucy Blumen liebt. Die werden sie aufmuntern. Sie war wirklich ärgerlich, als der Arzt sagte, sie müsse auf der Krankenstation bleiben. Ich durfte nur zehn Minuten zu ihr. Keine Ahnung wieso, sie ist doch nicht richtig krank. Sie kann sich ausruhen, während ich da bin. Sie sagten, es »strenge sie an«.
Immerhin hat sie sich über die Blumen gefreut und war nicht mehr wütend auf mich.
3. Februar
Heute konnte ich Lucy erst spät besuchen, eine halbe Stunde vor der Ruhezeit. Mr. Davies hatte nach dem Unterricht nämlich eine Lesung mit den Schülerinnen arrangiert und mich dazu eingeladen. Er trug auch zwei eigene Gedichte vor, die ich ziemlich gut fand. Sie waren schlicht, ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich hatte überlegt, wie seine Gedichte wohl sein würden. In einem ging es um einen Zaunkönig, der in einem abgestorbenen Baum singt: das unvermittelte und völlig unerwartete Erscheinen der Schönheit mitten im Alltag. Was ist real: das Lied des Vogels oder der tote Baum, denn nicht beide können real sein.
Ich bin sicher, dass ich die Einzige war, der seine Gedichte gefallen haben. Sie sind zu ruhig. Die Bedeutung ist nicht offensichtlich. Die anderen Mädchen wollen Schmerz und Angst, sogar von einem Mann. Davon steckte viel in ihren Gedichten. Man stürzt kreiselnd in dunkle Teiche der Verzweiflung, wird hinuntergezogen, erstickt. Alle fühlen sich unverstanden und jammern wegen eines dämlichen Jungen oder eingebildeter Schmerzen. Das Leben ist ein Riesenklischee. In ihren Gedichten wird selbst die Todessehnsucht zum Klischee.
Ich bin so froh, dass ich nicht in diesen Kurs gegangen bin. Schlimm genug, wenn man die ganze Zeit über sich nachdenken muss, aber Gedichte an sich selbst zu verschwenden ist eine Sünde. Es gibt so viele Dinge, über die man schreiben kann, so viele reine Dinge, darum sollte es in der Poesie doch gehen. Aber alle wollen sich in ihren Gedichten bloß selbst enthüllen und eine Show abziehen. »Ich« schreibe ich nur in meinem Tagebuch, wo niemand es sieht.
Als ich zu Lucy kam, wurde es gerade dunkel. Ich hatte zwei Hershey-Schokoriegel und Hermann Hesses Demian dabei, vielleicht langweilte sie sich ja. (Sie sagte, sie wolle es lesen, aber da bin ich mir nicht so sicher.) Ich machte die Tür auf und ging leise hinein. Zuerst dachte ich, sie würde schlafen, weil sie so still auf dem Bett lag, doch als ich mich an das Licht gewöhnt hatte, sah ich, dass ihre Augen weit geöffnet waren. Sie zwinkerte nicht mal. Sie lag auf dem Rücken, die Arme seitlich an den Körper gepresst, und ihr Gesicht war so weiß wie das Laken. Sogar ihre Lippen waren weiß. Sie verbleicht. Vielleicht lag es am Zwielicht, jedenfalls flüsterten wir nur.
»Ich habe dir Schokolade und ein Buch mitgebracht.«
»Danke.«
Ich bemerkte ein Buch, das zugeklappt neben ihrer Hand lag. Es war eine Ausgabe von Jane Eyre in blassgrünem Einband mit Goldbuchstaben. Ich schlug es auf und sah den Namen Ernessa Bloch auf der Titelseite, die mit schwarzen, bräunlich verblichenen Tintenflecken gesprenkelt war. Selbst ihre Handschrift ist altmodisch und steif: das E und das B waren groß und elegant, die übrigen Buchstaben
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