Die Sehnsucht der Falter
Jetzt hat sie Angst, auch durch die Nachprüfung zu fallen.
Endlich haben auch die anderen was gemerkt. Wir (Sofia, Claire und ich) haben beschlossen, am Samstag mit Lucy durch die Stadt zu bummeln. Wir wollen nach Klamotten und Platten schauen und vielleicht ins Kino gehen. Hauptsache, sie kommt hier raus. Heute Abend rufe ich Charley an und frage, ob wir uns treffen sollen. Gerade hat es zum Abendessen geläutet, und ich bin noch nicht umgezogen. Ich muss mich beeilen. Alle meine Strümpfe haben riesige Laufmaschen, und meine Sachen sind schmutzig.
Nach dem Abendessen
Heute Abend mache ich etwas, das ich selten tue. Ich verbringe die Arbeitsstunde in der Bibliothek. Obwohl sie voll ist mit alten Büchern, Eichentischen und -stühlen und Leselampen mit grünen Glasschirmen, lese ich nie hier. Meist sitzen viele Mädchen herum und reden, dabei kann man sowieso nicht arbeiten. Doch heute Abend ist es leer.
Ich mache meine Hausaufgaben gern auf dem Bett, aber ich wollte weg von Lucy. Hier wird sie mich nicht finden. Soll sie ihre Formeln doch allein lernen. Vermutlich sitzt sie am Schreibtisch, starrt ins Leere und wartet, dass ich ihr helfe.
Ich bin sauer, weil sie keinen Nachtisch gegessen hat.
Ich habe lange die verblichenen Rücken der Bücher betrachtet und den staubigen Papiergeruch eingeatmet. Ich bin glücklich. Lucy ist in ihrem Zimmer, weit weg von mir. Ich kann über sie schreiben, ohne zu fürchten, sie könnte mein Tagebuch lesen.
Eigentlich ist der Nachtisch nicht so wichtig. Sie hat überhaupt aufgehört zu essen und stark abgenommen. Wir sitzen zusammen an Miss Meinekes Tisch. Bei weitem der beste Tisch. Miss Meineke ist wie wir. Sie wohnt im dritten Stock neben der Krankenstation. Sie läuft im Schlafanzug durch den Flur, und ihr Zimmer sieht chaotisch aus. Auf dem Boden stapeln sich Bücher und unkorrigierte Englischarbeiten, sie macht auch nie ihr Bett. Mac wird verrückt, kann aber nichts sagen. Beim Abendessen macht Miss Meineke sich über die Fluraufsichten lustig und kichert ständig. An ihrem Tisch haben Lucy und ich uns angefreundet. Als ich letzte Woche die Tischordnung in der Garderobe hängen sah und unsere Namen am selben Tisch entdeckte, freute ich mich einen Moment lang. Ich dachte, ich muss es sofort Lucy sagen. Aber dann habe ich es doch nicht getan. Heute Abend gab es unseren Lieblingsnachtisch: Karamell-Cornflakes-Ringe mit Mokkaeis. Zuerst sagte Lucy, sie wolle nichts davon, sie habe keinen Hunger. Miss Meineke fragte: »Wie kannst du da bloß widerstehen?« und stellte ihr trotzdem einen Teller hin. Lucy aß wie ein Vögelchen. Das Eis zerlief zu einer Pfütze. Demonstrativ aß ich meine Portion auf, obwohl mir bei ihrem Anblick der Appetit vergangen war. Sie ist an nichts Sie ist lautlos in den Raum gekommen und hat sich neben mich gesetzt, als wären wir verabredet. Und das waren wir wohl auch, irgendwie. Wir sagten lange Zeit kein Wort, und ich blickte nicht von meinem Tagebuch hoch. Ich legte den Arm über die Seite, damit sie nicht lesen konnte, was ich geschrieben hatte. Ich wollte nicht, dass sie die Buchstaben L-U-C-Y dort sah. Die schwarze Tinte war noch feucht. Ich spürte sie am Unterarm. Meine Haut verschmierte die Tinte. Ich legte meinen Füller auf den Tisch, ohne ihn zuzuschrauben, obwohl ich es absolut nicht mag, wenn die Feder austrocknet. Aus dem Augenwinkel hinter der Brille konnte ich erkennen, dass sie den Arm neben meinen auf den Tisch gelegt hatte, mich aber nicht berührte. Sie hat lange schwarze Haare auf dem Arm, und die Haut darunter ist ganz weiß. Aber dick. Man sieht keine Adern.
»Meinst du, wir sehen irgendwann auch so aus?«, fragte Ernessa und schaute auf die Porträts der Schulgründerin und ihrer ersten Nachfolgerinnen, die vor uns an der Wand hingen. Sie tragen alle Dunkelbraun und Grau und Grün, wirken düster und streng. Kein Lächeln könnte sie weicher machen. Dann würde die Farbe von den leblosen Gesichtern blättern.
»Das möchte ich bezweifeln«, lachte ich nervös. »Ist nicht mein Stil.«
»Ich meine nicht die Kleidung. Ich meine, dass man erwachsen und vertrocknet aussieht, so wie Miss Rood und die anderen Frauen hier. Eigentlich wollte ich nie erwachsen werden. Ich war zufrieden, ein Kind zu sein.«
»Ich auch. Aber so wird man nicht über Nacht. Außer man ist so geboren. Wie Miss Rood. Vermutlich ist das Altern weniger schmerzhaft, als wir glauben. Es trifft jeden.« Ich war überrascht, dass ich mich tatsächlich mit
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