Die Sehnsucht der Falter
winzig und kaum zu entziffern. Es erinnerte mich an die Bücher in der Bibliothek meines Vaters, alte Bücher, die andere Menschen vor Jahren gekauft, signiert und gelesen hatten, ohne daran zu denken, was nach ihrem Tod aus ihnen würde. Früher habe ich oft die Namen betrachtet und an die Leute gedacht, die die Bücher besessen hatten, wie sie sie in der Hand gehalten hatten und nie daran gedacht, dass sie eines Tages sterben und die Bücher in meine Hände gelangen würden.
»Ernessa hat es mir gebracht. Aber ich bin zu müde zum Lesen. Das Buch ist so schwer.«
»Geht es dir denn gar nicht besser?«
»Ein kleines bisschen.«
»Lucy, Lucy.«
»Ich fühle mich nicht krank«, sagte sie. »Mir tut nichts weh. Es ist nicht schlimm, wenn man so schwach ist. Ich habe keine Angst. Ich brauche nur hier zu liegen und ans Atmen zu denken. Ich höre, wie der Atem aus meinem Mund kommt. Dann warte ich eine Sekunde, bevor ich mich entscheide, weiterzuatmen. Eigentlich entscheide ich mich gar nicht …«
Ihre Stimme erstarb. Eine Weile sagten wir gar nichts. Ich hatte Lucy noch nie so reden hören. Es machte mir Angst. Als es so dunkel geworden war, dass ich ihr Gesicht nicht mehr vom Kopfkissen unterscheiden konnte, machte ich die Lampe neben dem Bett an. Das Lampenlicht war nicht hell, dennoch wandte Lucy sich ab und legte die Hand über die Augen. Neben der Lampe standen die Blumen, die ich ihr mitgebracht hatte. Das leuchtende Rot war zu Rosa geworden. Die Stängel und Blätter waren verblasst, aber nicht welk.
»Was ist mit deinen Blumen passiert?«, fragte ich. »Sie sind ganz ausgeblichen.«
Ich stand auf und schaute nach, ob die Farbe irgendwie in die Vase gelaufen war. Aber das Wasser war klar.
»Sie haben wohl angefangen zu welken«, sagte Lucy.
»Dabei waren sie gestern noch so frisch.«
In diesem Moment klingelte es zur Ruhezeit, und die Krankenschwester kam herein. Ich wusste, ich durfte nicht länger bleiben, also küsste ich Lucy und ging.
Im Flur merkte ich, dass ich die Riegel noch in der Tasche hatte und das Buch in der Hand hielt, das ich Lucy hatte geben wollen. Ich fand es furchtbar, Lucy dort allein zu lassen, wo sie über jeden einzelnen Atemzug nachdachte.
4. Februar
Lucy hat nur noch Kraft zum Atmen. Sie wird schwächer, und Ernessa wird stärker. Ernessa zehrt von Lucys Kraft. Sie ist ihre Nahrung. In der Krankenstation zwingt man Lucy zu essen, aber sie wird dahinschwinden, während Ernessa ungeheuer groß und stark wird. Beim Abendessen beobachte ich Ernessa. Sie schiebt das Essen nur auf dem Teller hin und her. Dennoch sieht sie so gesund aus. Ich muss sie von Lucy fern halten. Zum Glück lassen die Schwestern niemanden lange zu ihr.
5. Februar
Im Grunde ist es mir viel lieber, wenn Lucy auf der Krankenstation ist. So muss ich nicht die ganze Zeit auf sie aufpassen. Das erledigen die Schwestern. Dort ist sie sicherer. Ich liebe Lucy, aber es wurde mir allmählich zur Last, sie im Zimmer nebenan zu haben. Bis auf die kurze Zeit nach den Weihnachtsferien war ich nicht mehr gern mit ihr zusammen. Und selbst da war jedes nette Zusammensein irgendwie verdorben.
In der letzten Woche war ich sehr entspannt. Ich habe jeden Tag zwei Stunden Klavier geübt, alle Hausaufgaben gemacht, den zweiten Proust-Band gelesen. Ich kann jederzeit in mein Tagebuch schreiben. Es war wundervoll. Nachts schlafe ich gut und mache mir keine Sorgen. Meist bin ich allein oder mit Sofia zusammen. Wenn Lucy nicht da ist, kann ich mit Sofia zusammen sein. Morgen machen wir nach dem Mittagessen einen langen Spaziergang. Wir laufen gern an den großen Häusern mit den Swimmingpools und Tennisplätzen vorbei, vor denen schicke Autos parken. Manche Tagesschülerinnen leben in solchen Häusern.
Gestern habe ich mich nach der Schule gut mit Mr. Davies unterhalten. Ich dachte immer noch an seine Gedichte und wie überrascht ich war, dass sie mir gefallen. Es war mir nicht unangenehm, mit ihm allein zu sein. Er fragte mich, was ich gerade lese, und ich antwortete, ich wolle alles von Proust lesen.
»Wie wäre es mit Dracula 7 .«, fragte er. »Mein Lieblingsbuch, seit ich zehn war.«
Ich muss wohl angewidert ausgesehen haben.
»Ich verspreche dir, es ist so gut wie Proust und dazu noch viel kürzer. Ein vollkommenes Buch. Du würdest kein einziges Wort ändern wollen.«
»Ich kann solche Bücher nicht mehr lesen. Sie haben mir den ganzen Herbst verdorben.«
Mr. Davies guckte so enttäuscht, dass ich hinzufügte:
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