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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Rücken. Im Schlaf sah er so friedlich aus, dass ich ihn nicht stören wollte. Nach einer Weile machte er die Augen auf, setzte sich ganz langsam auf und folgte mir leise in mein Zimmer. Seine Füße schlurften über den Teppich im Flur, weil er noch im Halbschlaf war. Wenn er sich neben mich ins Bett legte, war ich sofort beruhigt und schlief wieder ein. Ich machte es nicht zu oft, nur wenn ich ganz verzweifelt war. Ich hatte Angst, er würde es tagsüber erwähnen. Mich vielleicht aufziehen, ich sei ja ein Baby Doch das tat er nie. Und wenn ich morgens aufwachte, war er weg, lag wieder in seinem Bett. Nur die Kuhle, die sein kräftiger Körper hinterlassen hatte, bewies, dass er wirklich da gewesen war.
    Jetzt ist nicht mal eine Kuhle da.
    Nachdem mein Vater gestorben war, ging meine Mutter ein paar Mal mit mir zu einem Psychiater. Ich erklärte, am meisten fehle mir, dass mein Vater nachts nicht mehr zu mir kommen könne, wenn ich ihn brauche. Obwohl ich ihn seit Jahren nicht aus dem Bett geholt hatte, fehlte mir die Gewissheit, es jederzeit zu können. Der Psychiater sagte, er finde es unangebracht, dass mein Vater das Bett mit mir teile. Er sprach über ihn, als lebte er noch und als hätte sein wahres Verbrechen nicht in seinem Selbstmord bestanden, sondern darin, mir beim Einschlafen zu helfen. Als der Arzt das sagte, frage ich mich, ob er den Grund für mein Kommen vergessen hatte. Er hatte so viele Patienten, dass er ihre Probleme womöglich verwechselte. Danach wollte ich nicht mehr mit ihm sprechen. Ich weigerte mich, meiner Mutter den Grund zu nennen. Ich weiß nicht, ob ihr jemals aufgefallen ist, dass mein Vater nachts manchmal das Bett verließ. Jedenfalls schickte sie mich ins Internat. Ich wollte nie wieder daran denken, wie mein Vater im Bett neben mir schlief. Der Arzt hatte mir die Erinnerung daran verdorben.
    Letztes Jahr um diese Zeit bereitete ich mich auf den Frühlingsball vor und träumte insgeheim davon, mich in meinen Tanzpartner zu verlieben. Ich habe niemandem davon erzählt. Er war unglaublich langweilig und pickelig. Ich dachte die ganze Zeit, was für eine Verschwendung, dass ich mir so ein schönes Kleid gekauft habe. Trotzdem war ich damals glücklicher.
12. Februar
    Kennt jemand den genauen Punkt, an dem die Realität endet und etwas anderes, völlig Unergründliches beginnt? Betrachtet man zwei parallele Linien, so weiß man, dass man nie die Stelle sehen wird, an der sie sich tatsächlich berühren, sondern nur den Punkt, an dem sie zu verschmelzen scheinen. Dennoch existiert diese Stelle in der Theorie, denn in der Theorie ist alles möglich.
    Heute Morgen sollten wir in die Bibliothek gehen, um für unser Geschichtsreferat zu recherchieren. Ich beschloss, lieber Klavier zu üben. Wenn ich mich in einen der bequemen Sessel in der Bibliothek setze, schlafe ich sofort ein. Im Musikraum könnte ich mich höchstens auf den Boden legen. Ich spielte eine Weile, doch der Geruch aus dem Keller störte mich. Schon wieder. Ich hatte ihn vergessen, doch heute konnte ich es nicht ertragen, im Zimmer zu bleiben. Ich beschloss, den Hausmeister zu suchen, und hatte gerade die Tür aufgemacht, als ich am Ende des Flurs einen Blick auf einen marineblauen Pulli und einen langen grauen Rock erhaschte. Ich wusste, wer es war, bevor ich das Gesicht sah. Sie ging schnell an mir vorbei, wobei sie nicht rannte, sondern eher über den Boden hinwegstrich. Ihr Gesicht war dunkelrot und verquollen. Nass und glitschig. Sie wischte mit dem Ärmel darüber. Es war furchtbar.
    Als sie weg war, ging ich durch den Flur zur Kellertür. Ich hatte Angst, den Knauf zu berühren. Ich hatte Angst, mir die Haut zu versengen. Die Tür war abgeschlossen. Ich bin mir sicher, dass ich sie aus dem Keller habe kommen sehen. Sie hat sich irgendwie einen Schlüssel besorgt. Oder jemand hat die Tür offen gelassen. Doch das ist keine Erklärung.
    Im letzten Herbst habe ich mich in Geschichten hineinziehen lassen, und diese Geschichten haben Dora getötet. Das lasse ich nicht mehr zu. Ich werde keine Dinge glauben, die ich für unmöglich halte. Ich machte die nächste Stunde blau und verkroch mich unter meiner Bettdecke. Ich musste in meinem eigenen Zimmer, meinem eigenen Bett sein, umgeben von meinem eigenen Geruch, nicht dem elenden Kellergestank. Wenn Mrs. Halton reingekommen wäre, hätte ich einfach gesagt, ich hätte furchtbare Krämpfe. Als ich mich ein bisschen beruhigt hatte, zwang ich mich zum Lesen. Ich klappte das

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