Die Sehnsucht der Falter
die Zungenspitze hervorblitzten. Sie lag so still, als schliefe sie, aber die Geräusche kamen von ihr. Es war ihr Stöhnen, das mit ihrem Atem an- und abschwoll. Ernessa lag neben ihr. Die beiden Körper gingen ineinander über. Sie berührten einander von Kopf bis Fuß. Ernessa hatte sich auf den Ellbogen gestützt. Sie neigte den Kopf, legte die Lippen um Lucys Brustwarze und saugte fest daran, zog das Fleisch in ihren Mund. Lucys Nachthemd war bis zur Taille aufgeknöpft, die andere Brust ebenfalls nackt, die Haut straff, die Warze nur ein rotes Hügelchen. Ernessa hatte den Arm um Lucys nackte Taille geschlungen. Ihre Körper, ihre Haare mischten sich, schwarz und silbrig-gold. Der Mond zog hinter dicken Wolken vorüber, das Zimmer versank in Dämmerlicht. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden. Ich konnte mich nicht länger auf das Bett konzentrieren. Es verschwand in der Nacht. Ich machte leise die Tür zu und eilte in mein Zimmer.
Genau darüber haben Lucy und ich uns immer lustig gemacht. Wir haben immer darauf geachtet, nicht so zu werden. Mädchen, die zu weit gehen. Mädchen, die tun, als gäbe es die Welt um sie herum nicht. Mädchen, die nicht erwachsen werden können.
Sind sie glücklich? Kann man sie mit diesem Wort beschreiben? Selig? Ekstatisch? Selbstvergessen?
Was ist Liebe?
Nach dem Abendessen
Lucy ist heute Morgen nicht aus dem Bett gekommen. Ich kam auch zu spät zum Frühstück. Mrs. Halton brachte sie auf die Krankenstation. Sie war so schwach, dass sie nicht gehen konnte. Sie mussten sie auf die Krankenstation tragen. Als wir später im Unterricht waren, kam eine Ambulanz und fuhr sie ins Krankenhaus. Claire hatte natürlich alles herausgefunden und erzählte es mir. Ich schaffte kaum das Abendessen. Ich war zu durcheinander. Sicher, ich hätte mir Sorgen um Lucy machen sollen. Aber ich kann nur an die beiden denken, in Mondlicht gebadet, wie Staub. Ernessa sah beim Abendessen prima aus. Ihr Gesicht war ein wenig gerötet. Danach kam sie zum Rauchen in den Aufenthaltsraum, setzte sich aber abseits und sprach mit niemandem. Wir saßen alle auf dem Sofa und redeten über Lucy. Ernessa hielt sich die Zigarette an den Mund und paffte in einem fort, als wäre sie zu aufgedreht, um auch nur eine Sekunde aufzuhören. Sie war allein mit ihren Zigaretten. Ernessa hat Lucy krank gemacht. Das ist so offensichtlich. Es war von Anfang an Ernessa.
Ich habe niemandem gesagt, was ich letzte Nacht gesehen habe. Sie würden mir nicht glauben. Es ist ohnehin nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass Lucy im Krankenhaus liegt. Ich las nochmal in meinem Tagebuch. Es ist nur eine Woche her, dass ich geschrieben habe, Lucy gehe es besser.
18. Februar
In der Ruhezeit ging ich zu Mrs. Halton und fragte, ob sie etwas Neues gehört habe und ob ich Lucy im Krankenhaus besuchen dürfe. Sie sagte, Lucy sei sehr schwach, man werde zahlreiche Untersuchungen durchführen. Besuch sei zurzeit nicht erlaubt. Ihre Mutter ist bei ihr. Sie hat versprochen, mir Bescheid zu sagen, sobald sie etwas erfährt. Aber sie tat nur so nett.
Mitternacht
Heute scheint kein Mond. Es sind keine Wolken zu sehen. Der Himmel ist schwarz. Aber das Mondlicht strömte in Lucys Zimmer. Es war so hell, dass ich die Poren ihrer Haut erkennen konnte.
19. Februar
Noch immer nichts von Lucy. Ich habe schon überlegt, bei ihr zu Hause anzurufen, will aber nicht mit ihrem Vater sprechen.
Ich weiß, etwas hat Pater getötet. Ich weiß, dass ich eine Wolke aus Motten in Ernessas Zimmer gesehen habe. Ich weiß, jemand war auf der Dachrinne in der Nacht, bevor Dora starb. Ich weiß, dass Charley und Dora weg sind. Eine nach der anderen. Ich weiß, dass die Person, die sich über Lucy gebeugt hat, real war.
Das sind Tatsachen.
Nach der Chemiestunde schneite es heftig, und alle wollten durch den Schnee zurücklaufen. Ernessa ging in die entgegengesetzte Richtung, zum Übergang. Kiki rief ihr zu, sie solle doch mitkommen. Sie ist außer Lucy die Einzige, die mit ihr zurechtkommt und etwas mit ihr unternimmt. Jetzt, wo Charley Geschichte ist, dröhnt Ernessa sich immer mit Kiki zu. Sie scheint auf blonde, oberflächliche Typen zu stehen.
Ernessa drehte sich nicht mal um und antwortete: »Nein, mir ist nicht danach.« Dann stieß sie die Tür zum Übergang auf. Niemand fand es seltsam.
Ich habe Ernessa selten draußen gesehen. Lucy erwähnte mal, ihre Haut sei extrem sonnenempfindlich. Sie hat irgendeine seltsame Hautkrankheit. Aber es schneite. Niemand
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