Die Sehnsucht der Falter
kleine türkisfarbene Buch unter der Decke auf und betrachtete die Wörter auf der Seite. Ich merkte überhaupt nicht, was ich las.
Als ich sie nachmittags kurz vor dem Abendessen sah, wirkte sie ganz normal. Ich schaute sie demonstrativ an und begegnete ihrem Blick. Sie tat wie immer, beachtete mich kaum, also hat sie wohl nicht mitbekommen, dass ich sie heute Morgen gesehen habe.
13. Februar
Heute bin ich nicht mit den anderen in die Stadt gefahren, um Charley zu treffen. Mir war nicht danach. Ich war müde und hatte Kopfschmerzen, wie ich sie manchmal vor meiner Periode bekomme. Ein Spannungsgefühl im Kopf, meine Zunge ist dick und geschwollen. Ein eigenartiges Gefühl, für das es keine Worte gibt. Früher machte es mir Angst.
Ich muss mich dann in ein dunkles, ruhiges Zimmer legen. Ich kann nicht mal lesen. Nur über meine Kopfschmerzen nachdenken. Die Welt besteht nur aus meinem pochenden Schädel. Manchmal ist es so schlimm, dass ich mich übergeben muss. Ich schlafe stundenlang und wache müde auf. Wenn die Kopfschmerzen nachlassen, kann ich die Müdigkeit fast genießen. Meine Arme und Beine sind so schwer, dass ich sie nicht anheben kann. Alles fließt aus mir hinaus. Wenn ich Kopfschmerzen habe, träume ich nie.
Sobald ich mich im Bett hinsetzen und etwas Licht hereinlassen konnte, holte ich Tagebuch und Stift. Ich fühle mich so allein mit meinen Kopfschmerzen.
Lucy schien es egal zu sein, dass ich nicht mitgefahren bin.
Ich habe nicht die Kraft, gegen Ernessa zu kämpfen. Sie geht, wohin sie möchte. Sie erscheint unverhofft, ungerufen. Sie bewegt sich durch Türen, Wände und Fenster. Ihre Gedanken bewegen sich durch fremde Köpfe. Sie dringt in Träume ein. Sie verschwindet und ist doch da. Sie kennt die Zukunft und sieht durch Fleisch hindurch. Sie fürchtet sich vor nichts.
14. Februar
Heute sind meine Kopfschmerzen noch schlimmer, und ich bleibe wieder im Bett. Sofia hat mich besucht und mir etwas vom Mittagessen mitgebracht. Sie trifft in den Frühjahrsferien ihren Vater. Er macht mit den Kindern Skiurlaub in Vermont. Skiurlaub in Vermont – das klingt so normal, obwohl ihre Eltern geschieden sind und dreitausend Meilen voneinander entfernt leben. Immerhin befinden sie sich auf demselben Planeten. Sie ist ganz aufgeregt wegen ihres Vaters. Ich kann nicht weiterschreiben.
15. Februar
Gestern kam Lucy nach dem Abendessen zu mir.
»Sofia hat gesagt, du seist wirklich krank. Geht es dir besser?«
»Ein bisschen. Immerhin habe ich endlich meine Tage bekommen. Es sind eher Krämpfe als Kopfschmerzen.«
»Ich hatte noch nie Krämpfe«, sagte Lucy, als würde ihr damit etwas entgehen. »Wenn ich meine Tage habe, blute ich kaum. Außerdem habe ich sie im Herbst zuletzt gehabt.«
Lucy setzte sich auf die Bettkante und streichelte meine Wange. Am liebsten hätte ich gesagt, sie solle gehen, ich sei zwei Tage krank gewesen, ohne dass es ihr aufgefallen sei, und sie sei nur gekommen, weil Sofia es ihr gesagt habe. Ich wollte sagen, es interessiere sie doch eigentlich nicht, wie es mir gehe. Ich bin so schwach. Ich habe nicht ausgesprochen, was ich fühlte. Ich ließ sie im Dunkeln meine Wange streicheln.
17. Februar
Erst jetzt komme ich zu meinem Tagebuch. Ich habe das Mittagessen sausen lassen und bin sofort in mein Zimmer gegangen. Ich habe Angst, etwas von dem zu vergessen, was letzte Nacht geschehen ist. Es kommt mir schon wie ein Traum vor. Ich werde verrückt. Die Krämpfe waren wirklich schlimm, anders als alles, was ich bisher erlebt habe. Das Blut strömte aus mir heraus. Ich schlug die Bettdecke zurück. Auf dem weißen Laken breitete sich ein riesiger dunkler Fleck aus. Ich stolperte ins Bad und setzte mich auf die Toilette. Da ich mich dort besser fühlte, blieb ich eine Weile sitzen und ließ einfach das Blut aus mir hinausfließen. Ich legte den Kopf auf eine Stuhllehne und döste. Aus Lucys Zimmer drang ein leises Summen. Zuerst achtete ich nicht darauf, doch es wurde lauter und eindringlicher. Es trennte sich von der Stille der Nacht. Es schwoll an und ab, einfach so. Als ich aufstand, war mir schwindlig. Ich musste mich an die Wand lehnen, als ich den Türknauf drehte. Die Tür zu Lucys Zimmer schwang auf. Mondlicht strömte herein, die Jalousien waren hochgezogen, ich konnte alles deutlich erkennen. Lucy lag auf dem Rücken auf ihrem Bett. Ihre Haut war silbern. Ich konnte sehen, dass sie die Augen geschlossen und die Lippen leicht geöffnet hatte, sodass ihre weißen Zähne und
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