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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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»Vielleicht wenn ich mit Proust durch bin.«
    Ich erzählte ihm von der Proust-Ausgabe meines Vaters, die ich nach den Ferien mitgebracht habe. Ich habe die zwölf Bände auf meinen Schreibtisch gestellt: kleine blaue Bücher mit türkis-weißem Einband. Ich lese sie, weil mir die Bücher so gut gefallen. Es ist schon ein Unterschied, wenn ich ein Buch lese, das ich gern anfasse und ansehe. Es muss ein echtes Buch sein, meistens alt, mit einem ganz bestimmten Geruch, staubig und pflanzlich. Ich mag keine neuen Sachen.
    Ich liebe es, die Bücher meines Vaters zu lesen, die Seiten zu berühren, die er berührt hat. Er hat Zellen von seinen Fingerspitzen auf den Seiten hinterlassen, sie sind noch da. Manchmal sagt meine Mutter, sie wolle seine Bücher allesamt loswerden. Sie musste mir versprechen, sie für mich aufzuheben, aber ich traue ihr nicht. Sie könnte glatt eines Morgens aufwachen und entscheiden, dass sie sie nicht mehr ertragen kann. Dann würde sie jemanden kommen lassen, der sie abholt.
    Ich war damals so angespannt, weil das Baby uns vom Sofa aus beobachtete und ich genau merkte, dass seine Frau mich ansah, während sie sich mit Claire unterhielt. Er machte nur Spaß, aber ich konnte mich nicht entspannen. Ich hätte mich nicht von Claire zu diesem Besuch überreden lassen sollen.
6. Februar
    Ich habe Lucy jeden Tag auf der Krankenstation besucht.
    Heute (am Samstag) bin ich nach dem Frühstück hingegangen und werde sie nachher noch einmal besuchen, wenn Sofia und ich unseren Spaziergang gemacht haben. Sie sagte, sie langweile sich nicht und habe nichts dagegen, dort zu sein. Ich weiß nicht, womit sie die Zeit verbringt. Wenn ich komme, liegt sie immer nur da und starrt an die Decke. Ihr geht es wohl etwas besser, obwohl sie mir eigentlich unverändert vorkommt. Ihre Augen sind rot, als würde sie ständig weinen. Wahrscheinlich kommt sie morgen raus. Ich habe ihr heute alle Schulbücher mitgebracht, weil sie am Wochenende ihre Hausaufgaben nachholen soll. Sie wird hoffnungslos hinterherhinken. Wenn sie raus ist, braucht sie eine Weile nicht in Sport zu gehen.
    Ich habe ihr die Schokoriegel gegeben, vermutlich hat sie sie nicht angerührt. Dabei war sie praktisch süchtig nach Schokolade und musste jeden Tag nach der Schule welche essen. Sofia wurde fast wahnsinnig, weil Lucy essen konnte, was sie wollte, ohne zuzunehmen. Sie sagte, sie habe wenig Appetit, werde aber gezwungen, jede Mahlzeit zu essen.
    Es ist Mittag. Ich verhungere. Ich schreibe später weiter.
Nach dem Mittagessen
    Ich bin vielleicht sauer. Sofia und ich können nicht spazieren gehen. Ich weiß nicht, was ich bis zum Abendessen machen soll. Ich hatte auf Sofia gezählt.
    Nach dem Mittagessen hat sie mitten in ihrem Zimmer einen Riesenberg Pullover, Taschen, Schuhe, Bücher und schmutzige Unterwäsche gefunden. Sie ist kaum zur Tür reingekommen. In den letzten Monaten hat sie ihr Zimmer nicht jeden Morgen aufgeräumt. Sie stopft einfach alles unters Bett und zieht die Tagesdecke davor. Irgendwie hat Miss Fraser, ihre Fluraufsicht, es heute Morgen entdeckt und das ganze Zeug rausgeholt. Jetzt muss Sofia ihr Zimmer aufräumen. Miss Fraser wird es nachher überprüfen. Es ist wirklich unglaublich, wie viel Zeug sie unter ihr Bett gestopft hat. Keine Ahnung, wie sie noch was zum Anziehen finden konnte. Claire und ich standen staunend in der Tür. Sofia hockte im Schneidersitz auf dem Berg und lieferte eine perfekte Imitation von Miss Fraser mit ihren langen schlaffen Fingern und der schleppenden Stimme: »Meine Liebe, einem künstlerischen Temperament wie dir fällt es gewiss schwer, sich mit den banalen Dingen des täglichen Lebens abzugeben. Das verstehe ich durchaus. Aber es muss sein. Vorschrift ist Vorschrift.«
    Wir lachten alle, aber Sofia muss aufräumen, und mein Nachmittag ist im Eimer. »Ich bin nicht sauer auf sie«, gab Sofia zu. »Es ist wirklich ein Chaos.«
    Sie hat Mitleid mit Miss Fraser. Sie sagt, Miss Fraser habe davon geträumt, eine moderne Tänzerin zu werden, und glaubte nun, sie habe ihr künstlerisches Potenzial nie ausgeschöpft. Miss Fraser sei eine frustrierte Künstlerin.
    Ich glaube, sie ist eher sexuell frustriert. Ist Purpur nicht die Farbe des Begehrens? Sofia behauptet, bei Italienern stehe sie für Unglück und Tod. Egal, jedenfalls ist Miss Frasers Wohnung ganz in Purpur eingerichtet. Die Bettdecke hat einen rosigen Purpurton. Die Vorhänge sind bläulich angehaucht. Der Überwurf auf dem Sofa ist

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