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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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sah ich Ernessa. Sie trug den schwarzen Mantel mit dem Samtkragen, auf den ich so neidisch gewesen war, als sie ihn zum ersten Mal anhatte. Im letzten Herbst war ich auf alles, was ihr gehörte, eifersüchtig gewesen. Sie trug ein marineblaues Barett, von ihrer Schulter hing ein kleines braunes Täschchen. Ich entdeckte sie sofort in der Menge. Sie drehte den Kopf gerade so weit, dass ich ihr Gesicht erkennen konnte. In diesem Moment gab sie mir zu verstehen, dass sie auf dieser Welt ist, und zwar immer dort, wo ich selbst gerade bin.
    Ich möchte wissen, ob sie mir durchs Museum gefolgt ist und hinter mir gestanden hat, während ich den Kopf der jungen Prinzessin betrachtete und an Ernessa dachte.
    Als ich nach Hause kam, ging ich sofort in mein Zimmer. Ich wollte nicht ins Kino, musste mich aber zusammenreißen. Sie durften nicht sehen, wie durcheinander ich war. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, doch meine Wangen verbrannten mir weiter die Fingerspitzen.
    Wir schauten uns Tisch und Bett an, den neuen Truffaut-Film. Meine Mutter und ich sehen uns unheimlich gern zusammen solche Filme an. Das ist unsere romantische Seite. Wir vergöttern Jean-Pierre Léaud als Antoine Doinel. In diesem Film hat er einen Job, bei dem er weiße Nelken färbt. Er mischt Farbe in Eimern und stellt die Blumen rein. Die Farbe steigt durch die Stängel bis in die Blüten hoch. Die Pflanzen trinken und werden von innen verwandelt. Ich wüsste gern, wie lange es dauert, bis eine weiße Blume flammend rot wird.
    Ich musste während des ganzen Films an Ernessa denken.
23. März
    Soweit ich weiß, kann man apotropäisch (vom griechischen Verb für abwehren) wirkende Mittel in drei Kategorien einteilen: (1) Kreuze, (2) scharfe Gegenstände, (3) starke Gerüche.
    Knoblauch, Weihrauch, Parfum, die Schalen unreifer Nüsse, Kuhmist, Kot, Wacholder. Sie alle wehren Vampire ab. Man kann ein silbernes Messer unter die Matratze oder einen scharfen Gegenstand unters Kopfkissen legen und Kreuze über die Türen malen. In meiner Schublade fand ich eine Kette aus getrockneten Wacholderbeeren, die mir mein Vater vor Jahren aus New Mexico mitgebracht hat. Er sagte, sie würde Albträume abwehren. Dafür haben die Indianer sie benutzt.
    Kann ich Lucy davon überzeugen, etwas davon zu benutzen? Wohl kaum.
    Die Worte, mit denen man Vampire beschreibt, sind unendlich traurig: ein »trostloser Mensch«, der »keiner Erlösung zugänglich« ist. Warum sollte Ernessa Lucy in so ein Wesen verwandeln wollen? Trotz allem ist Lucy immer ein glücklicher Mensch. Schlimme Dinge hinterlassen bei ihr keine Spuren. Darum ist sie bei allen so beliebt. Warum verwandelte sie nicht mich? Ich wäre ein viel besseres Opfer. Ich bin schon fast so weit. Aber mich rührt sie nicht an.
    Es hat überall und zu jeder Zeit Vampire gegeben, schon in der Frühzeit: in ganz Europa, Assyrien, dem alten Irland, Russland, Ungarn, Transsylvanien, Griechenland, Indien, China, Java usw. Erfinden Menschen überall die gleichen Geschichten, weil sie die gleichen Ängste haben?
24. März
    Heute habe ich Lucy angerufen. Eigentlich wollte ich nicht, aber ich konnte nicht anders. Ich nahm den Hörer und wählte ihre Nummer. Sie meldete sich. Alles in Ordnung. Wir konnten nicht lange reden, weil sie zu ihren Kusinen musste. Der fröhliche Mensch war wieder da. Sie schiebt die Hausaufgaben vor sich her, dabei fängt in ein paar Tagen die Schule an. Bevor sie auflegte, fragte ich sie betont beiläufig, ob sie wisse, was Ernessa in den Ferien gemacht habe. Es dauerte lange, bis sie antwortete.
    »Nein. Wieso?«
    »Ich glaube, ich habe sie vor ein paar Tagen auf der Treppe vor dem Met gesehen. Ich dachte, sie hätte vielleicht davon gesprochen, nach New York zu fahren.«
    »Keine Ahnung«, meinte Lucy. »Vielleicht hat sie Verwandte dort. Hast du mit ihr geredet?«
    »Nein, ich hab sie nur von weitem gesehen.«
    »Vielleicht war es jemand anders.«
    »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es war. Ich könnte nie –«
    »Ich muss jetzt los. Meine Mutter ruft nach mir.«
    Sie hängte ein, ohne dass ich mich verabschieden konnte.
    Nach außen tut sie freundlich, ist aber misstrauisch. Sie will Ernessa vor mir schützen. Was habe ich Ernessa denn je getan, außer mich bei Mrs. Halton über ihr stinkendes Zimmer zu beschweren?
25. März
    Heute habe ich Strohkreuze gekauft, die wie Weihnachts baumschmuck aussehen. Das machte es ein bisschen weniger unheimlich, dennoch kam ich mir blöd vor, als ich

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