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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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verlorener Tag. Ich weiß nicht, ob die Woche mit ihm anfängt oder endet. Sogar als kleines Mädchen haben mich Sonntage heruntergezogen. Heute ist es noch viel schlimmer. Ich weiß nie, was ich sonntags machen soll.
    Ich habe schon lange daran gedacht, es zu tun.
    Es war mitten am Nachmittag, keiner war da. Der Flur wirkte verlassen. Es war ganz still. Ich saß in meinem Zimmer und starrte aus dem Fenster. Darauf hatte ich gewartet.
    Niemand antwortete auf mein Klopfen. Als ich den Türknauf drehte, schwang die Tür ein Stück auf. Niemand vertrat mir den Weg. Falls Ernessa mich überraschte, würde ich sagen, ich hätte Lucy gesucht. Die Kommode stand noch immer direkt an der Tür. Ich ging ins Zimmer und schloss die Tür.
    Nichts hatte sich verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Das Zimmer war kahl. Keine Bücher, kein Papier, keine Stifte, keine Haarbürste, kein Shampoo, keine Fotos oder Briefe. Nur Bett, Kommode, Schreibtisch, Stuhl, Lampe, das Grundmobiliar aus der Broschüre. Hätte Ernessa über Nacht gepackt und die Schule verlassen, würde es genauso aussehen. Ich merkte nichts mehr von dem furchtbaren Geruch, der immer in den Flur gedrungen war. Das Fenster war zu. Es war sehr stickig. Die stickige Luft wurde drückender. Jemand sog die Luft aus dem Zimmer.
    »Sie atmet nicht dieselbe Luft wie wir«, zitierte ich laut, um mich daran zu erinnern, dass ich noch sprechen konnte.
    In mir breiteten sich Müdigkeit und Schwere aus. Luden mich ein. »Là, tout n’est qu’ordre et beauté, / Luxe, calme et volupté.« Ich überlegte, ob ich die Kraft finden würde, bis zur Tür zu gehen und den Knauf zu drehen. Sosehr ich auch nach Luft schnappte, ich brauchte immer mehr. Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt.
    Ein leises Murmeln erklang, ich drehte mich um. Es wurde lauter, Wasser ergoss sich über die Steine in einem Flussbett, wirbelte weißen Schaum auf.
    Das Zimmer war voller Menschen. So dicht gedrängt, dass sie miteinander verschmolzen. Sie waren substanzlos, drückten sich aber gegen mich. Ich erkannte kein Gesicht. Mir war schwindlig, alles verschwamm in ihrem Lärm. Ich war mir nicht sicher, ob sie Gesichter oder wenigstens Körper hatten. Sie verströmten eine Verzweiflung, die so stark war wie der Schweißgeruch im Umkleideraum. Es waren so viele, und sie kamen auf mich zu.
    So würde auch Lucy enden. Mein Vater war vielleicht schon hier, hieß mich willkommen. Ich hatte keine Angst mehr, warum also warten? Ich war unter ihnen. Ich hörte die Stimme meines Vaters ganz deutlich: »Ich glaubte nicht, dass Tod so viele abgetan schon hätte.« Er lachte immer, wenn er die Worte zitierte. Es war eine seiner Lieblingsstellen bei Dante.
    Ich zwang mich, durchs Zimmer zu gehen, durch die drängenden Körper, und fiel gegen die Tür. Draußen im Flur sog ich die Luft gierig, in riesigen Atemzügen ein. Ich schloss mich im Bad ein und blieb lange auf den kalten Fliesen sitzen. Ich sah mein Gesicht im Spiegel, es war immer noch rot, und meine Ohren schmerzten, weil das Blut so laut durch meinen Kopf rauschte.
6. April
    Mr. Davies sprach mich im Flur an, er wollte wissen, wie es mir ging. Ich sollte ihn besuchen. Ich fragte warum. Er sah gekränkt aus und meinte: »Zum Reden. Über Bücher.«
    Um mich herum im Flur standen Mädchen in Gruppen, unterhielten sich, ließen ihre Büchertaschen baumeln, aßen und tranken. Niemand bemerkte Mr. Davies und mich, wir standen abseits. Niemand merkte, wie er mich ansah.
8. April
    Ich zwang mich, in Mr. Davies’ Zimmer zu gehen. Claire lungerte vor der Tür herum, weil sie wissen wollte, worüber wir geredet hatten. »Tod.« Mehr sagte ich nicht. Sie rümpfte angeekelt ihre lange, knochige Nase.
    Die Tür war zu, also konnte sie unmöglich gesehen haben, wie Mr. Davies sich vorbeugte und seine Hand auf meine legte.
    Wenn ich wollte, könnte ich dafür sorgen, dass er sich in mich verliebt. Ich könnte alles von ihm verlangen. Er schaut mich lange an. Er kann nicht aufhören, mich anzuschauen. Wonach sucht er?
    Heute Nachmittag hat er mir gesagt, sein Lyrik-Kurs lese Emily Dickinson.
    »Warum?«, fragte ich verärgert. »Sie hat ihre Gedichte nicht für dumme Mädchen geschrieben. Das sind genau die Mädchen, die mich meiden, weil ich sie an etwas Unangenehmes erinnert habe. Ich mache ihnen Angst.« Ich stellte mir vor, wie die Mädchen die Worte lasen und verlegen lachten. »Sollen sie doch Sylvia Plath und Anne Sexton lesen. Wahnsinn, gescheiterte

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