Die Sehnsucht der Falter
der morgens normalerweise so schwer aus dem Bett kommt, einfach aufspringen und die Treppe runterlaufen konnte, um in der Dämmerung Zielübungen zu machen. Wie zerbrechlich und unbeholfen Lucy geworden ist. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass sie jemals mit ihrem Lacrosse-Schläger und wehendem blonden Haar über den Platz gelaufen ist.
Jetzt ist das ganze neue Blut in ihrem Körper. Sie hat sich von einem sportlichen, gesunden Menschen in jemanden verwandelt, der schwach und zögerlich ist. Alle haben sich an die neue Lucy gewöhnt. Sie begreifen nicht, wie sehr sie sich verändert hat.
April
1. April
Jetzt verändert sich auch Sofia. Beim Skifahren in Vermont hat sie einen Jungen namens Chris kennen gelernt. Sie sagt, sie sei nicht in ihn verliebt, wolle aber bei ihm ihre Jungfräulichkeit verlieren. Er kommt übers Wochenende, und sie will ihn drüben beim College treffen und die Nacht mit ihm verbringen. Sie hat mich gefragt, ob ich mitkommen und aufpassen will. Carol ist auch dabei.
Ich konnte nur nicken. Hoffentlich ist sie bald drüber weg. Sie war immer so prüde. Jetzt redet sie von nichts anderem mehr. Ich bin von ihr enttäuscht.
Ich wache erschöpft auf.
Ich kann nachts nicht schlafen. Ich brauche eine Tablette, die alles vertreibt.
In meinem ersten Jahr drängten wir uns nach der Arbeitsstunde in der Badekabine, stopften ein Handtuch in den Türspalt und drehten kochend heißes Wasser auf. Weiße Dampfwolken stiegen von der Wanne zur Decke hinauf. Wenn der ganze Raum voller Dampf war, zündeten wir eine Zigarette an und ließen sie rumgehen. Der Dampf fraß den Zigarettenrauch. Wir rauchten, bis uns schwindlig wurde. Dann machten wir nacheinander die Tür auf und rannten in unsere Zimmer. Ich kroch ins Bett, mir war noch immer schwindlig. Sobald ich die Augen schloss, schlief ich ohne einen weiteren Gedanken ein. Es war, als nähme man eine Vergessenspille.
2. April
Heute Morgen bekam ich ungewollt Streit mit einer Tagesschülerin. Diese ätzende Art Streit, bei dem der andere nicht mal richtig zuhört.
Ich stand mit einigen Mädchen vor dem Matheraum. Wir warteten, dass Miss Hutchinson die Tür aufmachte und uns hineinließ. Da sagte Megan Montgomery plötzlich: »Ich glaube, wir sollten einfach reinmarschieren und sie rausbomben! Wir könnten Hanoi in wenigen Tagen platt machen.«
Megan sprach einfach in die Runde, vielleicht meinte sie aber auch mich. Wie konnte ich da den Mund halten?
»Wie schrecklich, wie kannst du so was sagen? Dabei würden viele unschuldige Menschen sterben.«
»Wir oder die«, sagte sie. »Die Wahl dürfte nicht schwer fallen. Wir bomben sie zurück in die Steinzeit und holen unsere restlichen Truppen raus.«
»Du redest nur nach, was deine Eltern sagen.«
»Du mit deinen roten Eltern … deiner roten Mutter, besser gesagt. Vermutlich ist sie gerade bei einem Protestmarsch.« Megan lachte über ihren Witz, und ich merkte, dass die anderen sich das Lachen verbeißen mussten.
Mein Gesicht wurde heiß – nicht vor Verlegenheit, sondern vor Zorn. »Immerhin hasst meine Mutter, meine rote Mutter, jegliche Form von Mord. Was ist es denn für ein Gefühl, wenn man andere Menschen töten will?«
Meine Stimme wurde lauter, die Mädchen entfernten sich von mir. In diesem Augenblick öffnete Miss Hutchinson die Tür und steckte ihren grauen Kopf heraus. »Was ist das für ein Lärm hier draußen?«
Alle eilten in die Klasse, weg von mir. Ich blieb im Flur, wollte mich beruhigen, aber ich konnte Megan und ihr glattes, selbstzufriedenes Grinsen einfach nicht vergessen.
Eigentlich dürfte ich Leute, die nicht selbst denken können und in den dummen Ansichten ihrer Eltern gefangen sind, nur bemitleiden. Explodierende Bomben sind für sie genauso unwirklich wie für mich ein buddhistischer Priester, der sich selbst verbrennt. Ich hatte gesehen, wie die durchscheinenden Flammen an seinen Gewändern nagten und dann unvermittelt in die Höhe schossen. Er brach zusammen, und der schwarze Rauch von brennendem Fleisch wogte um die reglose Gestalt des Priesters. Ich war nicht mal traurig; es passierte ja nur im Fernsehen. Nur deshalb können wir derartige Szenen ertragen.
Zum ersten Mal seit Monaten vermisste ich Dora. Die Einzige, die meine Gefühle, meine moralische Entrüstung hätte verstehen können, war tot.
Vielleicht rufe ich meine Mutter nach dem Abendessen an. Immerhin hat sie mich hierher geschickt, wo es solche Mädchen gibt.
4. April
Der Sonntag ist ein
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