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Die Sehnsucht der Falter

Die Sehnsucht der Falter

Titel: Die Sehnsucht der Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Klein
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Liebe, Selbstmord. Für sie reicht das alle Mal.«
    »Für wen hat sie die Gedichte denn geschrieben?«, fragte er. Dabei legte er seine Hand auf meine. Er drückte fest zu; er wollte mich zurückhalten.
    »Für mich.«
    »Nur für dich?«
    »Ja. Nicht mal für Sie. Es sind meine.«
    Beim Rausgehen war ich durcheinander. Ich hätte stundenlang weinen können. Stattdessen musste ich mich mit Claire herumschlagen.
    Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, sage ich ihm, dass ich Emily Dickinsons Gedichte nicht mehr brauche. Er soll sie ruhig haben. Selbst die dummen Mädchen können sie haben.
9. April
    Heute Morgen in der Versammlung hat Miss Rood wieder Ernessas Namen vorgelesen, weil sie vier Wochen nacheinander Sport blaugemacht hat. Miss Bobbie hat es auf Ernessa abgesehen. Miss Rood toleriert Jüdinnen, obwohl sie sie nicht mag, aber Miss Bobbie hasst sie. Sie wird bei Ernessa nicht lockerlassen. Das Gleiche hat sie auch mit Dora und mir gemacht. Eine Zeit lang trug Dora keinen BH, und Miss Bobbie schlich sich von hinten an und fuhr ihr mit dem Finger über den Rücken, um den Verschluss zu suchen. Sie hat so viele Tadel dafür bekommen. Dabei existiert vermutlich keine Regel, die das Tragen von BHs vorschreibt. Einmal hatte ich keine saubere weiße Bluse und trug nur einen Pullover. Das machen viele Mädchen. Gleich morgens erwischte sie mich und verpasste mir einen Tadel wegen unvollständiger Uniform. Und montags morgens hat sie mir schon eine Menge Tadel wegen schmutziger Schuhe erteilt. Das ist ihr Leben.
    Vielleicht sorgt Miss Rood dafür, dass immer ein paar Jüdinnen auf der Schule sind, damit Miss Bobbie beschäftigt ist.
    Ich schaute Ernessa an, nachdem Miss Rood ihren Namen aufgerufen hatte. Wie üblich funkelte sie Miss Bobbie an, die immer neben der Tür zum Versammlungsraum sitzt. Sie war außer sich. Glotzte immer weiter. Nach der Versammlung nahm Mrs. Halton sie beiseite. Ich konnte nicht hören, was sie zu Ernessa sagte.
10. April
    Niemand spricht über Ernessa, wenn ich dabei bin. Manchmal hören sie sogar auf zu reden, wenn ich ins Zimmer komme. Ich weiß genau, worüber sie gesprochen haben. Als ich heute Nachmittag bei Sofia war, hörte ich, wie sich Sofia und Carol über Ernessa unterhielten. Ich las in Sofias großem Sessel, sie lagen nebeneinander auf dem Bett. Sie hatten ganz vergessen, dass ich im Zimmer war. Ich steckte den Kopf tiefer ins Buch und hielt die Luft an. Ich hatte Angst, sie würden sich an mich erinnern und aufhören zu reden.
    »Ernessa muss nächste Woche jeden Tag nach der Schule mehrere Bahnen schwimmen, dazu hat Miss Bobbie sie verdonnert«, sagte Carol. »Lucy sagt, sie hasse Schwimmen. Es sei eine Qual für sie.«
    »Warum sagt Ernessa nicht einfach, sie habe ihre Tage und könne nicht schwimmen?«, fragte Sofia. »Das mache ich auch immer.«
    »Sie will sich keinen Schein bei der Krankenschwester holen. Dann müsste sie mit der auch noch diskutieren. Außerdem würde Miss Bobbie es nur verschieben, sie kann ja nicht ewig ihre Tage haben.«
    »Dann soll sie doch sagen, sie könne nicht schwimmen.«
    »Aber sie hat im Herbst die Prüfung bestanden. Sonst hätte sie einen Schwimmkurs belegen müssen.«
    »Sie könnte sagen, sie sei nicht so gut.«
    »Anscheinend hat Miss Bobbie zu Ernessa gesagt: ›Wenn du eine Bahn schwimmen kannst, schaffst du auch zehn. Das ist eine gute Übung für dich.‹ So ein Miststück!«
    Miss Bobbie hat mich oft gequält; jetzt ist Ernessa dran. Aber ich kann es nicht genießen. Lucys Mitgefühl macht mich ganz wild.
    Ich stellte mir vor, wie Ernessa in den Umkleideraum neben dem Schwimmbecken geht, wo die Badeanzüge nach Größe geordnet in Regalen liegen. Es ist egal, welche Größe man nimmt, weil die Baumwolle im Wasser sofort die Form verliert und lose runterhängt. Manche Anzüge sind neuer, ihr Blau ist dunkler, während andere fast weiß vom vielen Waschen sind, doch alle sind wie Säcke, man sieht die Brüste durch und die blasse Haut unter den Armen.
    Im Umkleideraum sind immer Mädchen, die sich gerade umziehen. Man kann sich nirgendwo verstecken. Sie muss sich vor deren Augen umziehen und ihnen zeigen, dass sie unter den langen Ärmeln, langen Röcken und Strümpfen einen echten Körper hat. Sogar ihr Sporttrikot reicht bis zu den Knien. So was trägt sonst niemand. Sie muss, wenn auch nur kurz, ihre Nippel, ihr Schamhaar, ihren Bauch, ihren Arsch entblößen, während sie den Badeanzug überstreift. Gewiss wird jemand ihre

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