Die Sehnsucht der Konkubine
passiert?«
Plötzlich hörte er einen lauten Schuss und schaute sich rasch um, ehe ihm bewusst wurde, dass er ihn nur in seiner Erinnerung gehört hatte. »Wir waren in einem Zug.« Er erinnerte sich noch gut an die Temperatur in den Viehwaggons. Es war so kalt gewesen, dass einem das Blut in den Adern gefror, und er hatte gesehen, wie die Lippen seiner Frau und seiner kleinen Tochter blau wurden, und dass ihre Haut bleicher war als der Schnee draußen auf der sibirischen Tundra.
»Die Bolschewiken waren überall«, sagte er, »und hielten jeden Weißrussen fest, der auf der Flucht war. Sie zerrten alle Männer aus dem Zug, und dann …« Er verzog schmerzlich das Gesicht und zündete sich abermals eine Zigarette an, um den Geschmack des Todes in seinem Mund loszuwerden.
»Erschossen sie sie?«, fragte Olga.
Er nickte. »Ich hatte Glück. Weil ich Däne bin, haben sie mich stattdessen zu Zwangsarbeit verurteilt.« Er zog fest an seiner Zigarette. »Glück«, wiederholte er bitter. »Kommt drauf an, was man damit meint, stimmt’s?«
»Was ist mit deiner Frau und deiner Tochter? Was ist mit ihnen geschehen?«
»Ich dachte, sie seien ebenfalls getötet worden.«
»Aber jetzt hast du gehört, dass deine Tochter am Leben ist?«
»Ja.« Sein breites Lächeln war für sie beide eine Überraschung. »Sie heißt Lydia.«
VIERUNDDREISSIG
A lexej hatte verschlafen. Seine Beine schmerzten, seine Haut juckte. Eine Frau mit nässenden Stellen im Gesicht und einem Schrubber in der Hand tippte ihn mit den Borsten ihres Putzgeräts an.
»Auf! Idiot! Und jetzt raus hier.«
Alexej rollte bekleidet aus dem Bett, merkte, wie schlecht er roch, und sah, dass der Schlafsaal sich bereits geleert hatte. Während des Tages war es untersagt, sich hier aufzuhalten. Doch im Winter waren die Tage gnädigerweise kurz. Gerade war er zu dem einzigen Badezimmer im Erdgeschoss unterwegs, als ein Schwall kalte Luft darauf hinwies, dass die Eingangstür sich geöffnet hatte, und hinter ihm eine Stimme ertönte.
»Towarischtsch!«
Er drehte sich um. Drei Männer in langen Mänteln und dicken Fellmützen auf dem Kopf starrten ihn an. Der lethargische Portier hinter dem Tresen beäugte sie mit unverhohlener Ablehnung, sagte aber nichts, und Alexej verspürte einen Anflug von Beunruhigung. Er verschränkte die Arme vor der Brust, als würde ihn die Unterbrechung nur anöden, und blieb, wo er war, den Mund zu einer schmalen Linie zusammengekniffen.
»Da?« , antwortete er.
»Wir möchten, dass du mit uns kommst, Genosse.«
Alexejs Gedanken rasten. Natürlich. Geheimpolizei. Das mussten sie sein. Das war alles, was er denken konnte. Die Geheimpolizei. Sie holten einen ab, wenn man am wenigsten damit rechnete, und oft genug, wenn es nur wenige Zeugen gab. Jemand hatte ihn aufgespürt. Und jetzt waren sie gekommen, um ihn zu verhaften. Wegen seiner Herkunft? Einfach nur deshalb, weil er aus einer aristokratischen Familie stammte? Oder gab es da noch etwas anderes? Sofort gingen seine Gedanken in Richtung Antonina. Hatte sie ihn verraten? Ein bitterer Geschmack stieg in seiner Kehle auf, denn er hatte eigentlich geglaubt, ihr trauen zu können. Wie, zum Teufel, sollte er seinem Vater helfen, wenn er sich selbst kaum helfen konnte? Er zwang sich dazu, locker dazustehen, und brachte sogar ein Lächeln auf.
»Nun, towarischtsch , warum sollte ich mit euch mitkommen?«, sagte er leichthin. »Ich habe jetzt zu tun. Ein andermal vielleicht.«
Er machte einen Schritt den Flur entlang, drehte ihnen dabei jedoch nicht den Rücken zu. Aber zu seiner Überraschung schnappten sie nicht nach seinen Fersen wie hungrige Wölfe, sondern blieben einfach nur etwas verblüfft an der Tür stehen. Noch vier weitere Schritte, und er stieß die Badezimmertür auf.
»Natürlich, Genosse«, sagte einer der Mantelträger, der ganz vorne in dem Dreiergespann stand, und fragte höflich: »Wann würde es denn passen?«
Alexej blieb abrupt stehen. Wann es passen würde? Seit wann fragte die OGPU denn, wann es passen würde? Er ließ die Klinke los, kehrte auf den Flur zurück und betrachtete die Eindringlinge genauer. Sie waren alle nicht älter als er selbst, etwa Mitte zwanzig, der eine klein und stämmig, die beiden anderen größer und hagerer, mit genau gleichen Schnurrbärten. Und sie alle hatten Augen, die ihn nervös machten.
»Wer seid ihr?«, fragte er.
»Wir sind uns gestern begegnet.« Es war eine der großen Gestalten, die das sagte.
»Gestern?«
» Da
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