Die Sehnsucht der Konkubine
wiederzusehen, auf einmal das Gefühl, dass etwas in ihm ins Wanken kam. Durch seinen eigenen Hochmut dort auf der Brücke in Felanka hatte er alles verloren, was die Türen für Jens Friis öffnen und ihm die Freiheit schenken könnte. Doch jetzt schaffte er es einfach nicht, von dem seltsamen Zimmer mit dem toten Vögeln und dem kranken Mann wegzugehen. Dieses Mal musste er seinen Hochmut hinunterschlucken. Das Knie beugen. Das Risiko eingehen.
»Er ruht sich aus«, verkündete Alexej den Männern. Dann kehrte er ins Zimmer zurück und schloss leise die Tür hinter sich.
»Und?«, tönte es vom Bett her.
»Du sagst, deine Freunde tun, was du ihnen sagst. Weil ich dir das Leben gerettet habe, würden sie da tun, was ich sage? Wären sie mir das schuldig?«
Woschtschinski runzelte die Stirn und zog die dicken Augenbrauen zu einer argwöhnischen Grimasse zusammen. Alexej kehrte zu dem Stuhl zurück und setzte sich.
Er nahm die Hand des Mannes in seine, berührte die Adern, die sich wie Schlangen unter seiner Haut ringelten, und schob den Ärmel des Nachthemds nach oben. Darunter wanden sich noch mehr Schlangen, schwarze Schlangen. Zwei von ihnen ringelten sich um die Wurzel des schlanken Skeletts einer Birke, mit roten Augen und Fängen, so scharf wie Rasierklingen. Unter ihnen standen in geschwungener Schreibschrift drei Namen: Alisa, Leonid, Stepan.
»Eine schöne Tätowierung«, kommentierte Alexej.
Maxim Woschtschinksi berührte die Baumwurzel zärtlich mit dem Zeigefinger der anderen Hand. »Das war meine Alisa, die Mutter meiner Söhne. Gott schenke ihrer Seele Frieden.«
»Maxim, wir müssen reden. Über die wory. «
Der Kranke kniff die Augen zusammen, und seine Stimme klang plötzlich heiser. »Was weißt du über die wory?«
»Das sind die Kriminellen von Moskau.«
»Und?«
»Und sie tragen Tätowierungen.«
FÜNFUNDDREISSIG
L ydia stand auf der Treppe der Christ-Erlöser-Kathedrale im matten Sonnenlicht. An ihr glitt die Moskwa vorbei, Boote dümpelten in ihren Fluten, die die Farbe geschmolzenen Silbers hatten, und in der Stunde, die sie gewartet hatte, hatte sie bereits zweiundzwanzig davon gezählt.
»Alexej«, murmelte sie. »Ich kann nicht mehr warten.«
Heute hatte sie felsenfest daran geglaubt, dass er kommen würde. Als sie zu Liew gesagt hatte: »Mein Bruder wird dort sein«, hatte sie sein lautes Gelächter zum ersten Mal wirklich verärgert, denn jetzt wusste sie ganz sicher, dass Alexej ihren Brief erhalten hatte und dass er sie wiedersehen wollte. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen, der so groß und schwer war wie die Grabplatten in der Krypta der Kathedrale. Sie stand ganz allein auf der breiten Treppe. Niemand kam auf der Straße näher oder verlangsamte seine Schritte. Alle schienen ihren täglichen Geschäften nachzugehen, ein älterer Mann mit einem dicken Hund an der Leine, eine junge Frau mit einem Einkaufsnetz und einem Kind an jeder Hand. Lydia blickte aufmerksam die Straße entlang. Es fiel ihr schwer, das unheimliche Gefühl abzuschütteln, dass sie beobachtet wurde.
Nach etwa zwanzig Minuten hatte sie sich vergewissert, dass niemand sie belauerte, trotzdem beschloss sie, auf Umwegen den Rückweg anzutreten. Zuerst in einem der Pferdefuhrwerke, dann eine Straßenbahn, ein komplizierter Zickzackkurs durch Ladenpassagen, durch mehrere Hintereingänge, eine weitere Straßenbahn, noch ein Laden und schließlich ein kurzer Sprint zu Fuß. Dann durch den Park. Sie hatte sich alles genau zurechtgelegt.
Das letzte Stück rannte Lydia, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie folgte dem Weg, den sie sich ausgedacht hatte, und nahm dabei alles in ihrer Umgebung so scharf wahr, dass sie die Augen zusammenkneifen musste, als schiene die Sonne. Trotzdem konnte sie Chang nirgendwo entdecken.
Sie hatte den Park von der Krimski-Brücke her betreten, die Chang An Lo problemlos von einer anderen Richtung aus erreichen konnte. Suchend schaute sie nach rechts und links. Noch vor wenigen Jahren hatte sich auf dem Gelände nur ein riesiger Schrottplatz befunden, auf dem bei Nacht irgendwelche Plünderer herumstreiften und streunende Hunde in Rudeln Unterschlupf suchten, doch dann war der Park zuerst für die Landwirtschaftsausstellung gesäubert und planiert worden und dann, im Jahre 1928, in einen großen Vergnügungspark umgewandelt und Gorki-Park getauft worden.
Von Vergnügen war nicht allzu viel zu sehen, trotzdem nutzten die Menschen den Park. Vom Sonnenschein hinaus in die
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