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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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außer einem Mund voll von der kascha gegessen hatte, die sie am Morgen für den Jungen zubereitet hatte. Die Frau wirkte ausgezehrt und müde, aber das galt für jeden hier. Zwei geflochtene Körbe standen rechts und links von ihr, der eine mit Äpfeln, der andere mit Nüssen, beides durch einen Wollschal vor der Kälte geschützt. Obendrauf waren einen paar bessere Exemplare für die Passanten ausgelegt.
    Einem Impuls folgend, nahm sich Lydia zwei von den Äpfeln und reichte der Frau zehn Kopeken aus dem dahinschwindenden Vorrat an Kleingeld in ihrer Tasche, bevor sie ihren eiligen Weg auf der Straße fortsetzte. An deren Ende lag ein wild überwucherter Streifen Niemandsland, der sich in eine träge Flussschleife der Moskwa schmiegte. Das Gelände machte den Eindruck, als würde es im Frühling schlammig werden, was wahrscheinlich auch der Grund dafür sein mochte, warum es nicht bebaut war, doch momentan war der Boden hart wie Eisen und mit einem braunen, stacheligen Gras bewachsen, dessen Halme sich wie Finger durch den glitzernden Schnee schoben.
    Lydia durchquerte das Gelände. Zu ihrer Überraschung erhob sich auf einer Seite ein schmuddelig weißes Zirkuszelt, an dessen oberstem Mast eine Reihe lustlos flatternder Wimpel hing, während unten, in Richtung Fluss, ein kleines Gehölz aus Birken und Erlen lag, das selbst jetzt im Winter einen dichten Sichtschutz zu bieten schien. Von Chang An Lo war weit und breit nichts zu sehen. Noch nicht. Doch sie wusste ebenso sicher, dass er hier war, wie sie wusste, dass ihre Atemluft beim nächsten Ausatmen einen weißen Nebel bilden würde.
    Wege gab es nicht, weshalb sie einfach schnurstracks durch den Schnee und das brüchige Gras marschierte, das unter ihren Füßen knirschte, während sie auf das Birkenwäldchen zuhielt. Und auf einmal spürte sie, wie ein Zittern durch ihren Körper ging. Was, wenn er sich verändert hatte? Was, wenn nichts mehr war wie früher? Was, wenn er diesmal so weit gereist war, dass sie ihn nicht mehr erreichen könnte? Ein bitterer Geschmack nach Kupfer breitete sich in ihrer Mundhöhle aus, aber auch das konnte ihre Lippen nicht davon abhalten zu lächeln.
    Kaum hatte sie die schlanken Baumstämme erreicht, spürte sie, obwohl die Temperatur in dem dunklen Gehölz sofort um ein paar Grad sank, wie ihre Körpertemperatur anstieg. Sie knöpfte ihren Mantel auf. Mit den Augen suchte sie das Unterholz ab, doch das einzige Lebewesen, das sie sah, war eine Dohle mit grauem Gesicht, die mit nickendem Kopf vor ihr hockte. Immer weiter wagte sie sich in das Wäldchen hinein und suchte sich ihren Weg zu den finstersten Stellen, wo es leichter sein würde, unentdeckt zu bleiben. Alle paar Schritte blieb sie stehen, lauschte aufmerksam. Doch alles, was sie hören konnte, war das ferne Plätschern von Wasser und das Zerren des Windes in den Ästen.
    Dennoch tauchte er ganz plötzlich vor ihr auf. Groß und schlank, anmutig wie die schwarz-weiß gefleckten Stämme der Birken. Und da war immer noch diese aufmerksame Reglosigkeit, mit der er sie betrachtete. Weder hatte sie Schritte gehört noch das Rascheln von Gestrüpp, aber jetzt konnte sie seinen Atem hören, sah ihn in einer weißen Wolke vor seinen Lippen stehen.
    »Lydia«, flüsterte er.
    Sie sagte kein Wort. Sie schaute einfach nur in sein Gesicht, in seine wunderschönen Mandelaugen. Auf den langen, kräftigen Hals und die geschwungene Linie seines Haares, das er sich aus der Stirn gestrichen hatte, seidig und schwarz. Es war ein Anblick, der ihr auf einmal alle Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, von der Zunge stahl. Sie streckte die Hand aus. Chang hätte ebenso gut ein Geist sein können und das hier nur einer der Träume, die sie jede Nacht quälten und peinigten. Vielleicht lag sie wirklich in ihrem Bett, und Liew Popkow gähnte auf der anderen Seite des Vorhanges mit weit aufgesperrtem Mund.
    Er berührte sie an der Wange. Als seine Finger dort verweilten, lehnte sie sich sanft dagegen, legte das Gewicht ihrer Wange in seine Handfläche. Ein Murmeln entrang sich ihren Lippen, wie ein wortloses Seufzen, das von ganz tief innen kam und ihren ganzen Körper erbeben ließ. Und dann schlossen sich seine Arme um sie, drückten sie so fest an sich, dass sie beide kaum mehr atmen konnten. Seine Hand zog ihr die Mütze vom Kopf, ließ sie auf den Boden fallen und umfing ihren Kopf zärtlich. Seine Finger strichen sanft durch ihre Haarfülle. Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle und

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