Die Sehnsucht der Konkubine
klirrend kalte Frostluft gelockt, schlenderten dick vermummte Gestalten Arm in Arm über die Parkwege, Kinder tollten auf den Rasenflächen herum wie junge Kätzchen, froh, wenigstens für ein paar Stunden ihren beengten Wohnverhältnissen entfliehen zu können. Ein athletisch wirkender Mann kickte fünf Jungen einen Ball zu, die allesamt die Uniform der jungen Pioniere trugen und mit ihren leuchtend roten Schals vor dem weißen Schnee wie Rotkehlchen aussahen. Es war ein ganz gewöhnlicher Anblick – ein Vater, der mit seinen Kindern spielte –, doch Lydia gab es vor Neid dennoch einen Stich, und sie hasste sich für diese Schwäche, gegen die sie irgendwie nicht gefeit war.
Während sie den Park durchquerte, vorbei an den maiglöckchenweißen Lichterketten, schwand ihre Zuversicht mit jedem Schritt. Das hier war alles falsch. Der Park war überhaupt nicht so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, als sie ihn als Treffpunkt vorschlug. Sie verfluchte sich für ihr eigenes Unwissen. Sie hatte sich vorgestellt, es würde Bäume und dichtes Unterholz geben, wo man sich zurückziehen konnte, lauschige Plätzchen, an denen zwei Menschen unbeobachtet miteinander reden konnten, aber der Vergnügungspark war noch relativ neu, weshalb es hauptsächlich weite, leere Flächen, dick verschneite Blumenbeete gab und frischgepflanzte Bäume, die kaum größer waren als sie selbst. Es dauerte nicht lange, bis ihr klar wurde, dass Chang An Lo nicht hier war.
Diese Erkenntnis traf sie wie ein Eiszapfen, der sich tief in ihren Schädel bohrte. Sie schloss die Augen, und das milde Sonnenlicht fühlte sich auf ihren Wimpern fast warm an.
Wo bist du, mein Geliebter?
Sie atmete tief durch, ließ den Gedanken ihren Lauf. Schließlich wurde ihr bewusst, dass sie den falschen Weg eingeschlagen haben musste. Langsam ging sie die Strecke zurück, wobei sie diesmal nur auf den Boden und die Umgebung achtete. Erst als sie an ihrem Ausgangspunkt angelangt war, fand sie das Zeichen. Sie lächelte und spürte, wie eine leichte Brise in ihrem Haar spielte. Das Zeichen war ein kleiner Steinhaufen, so klein, dass man ihn kaum bemerkte. Doch Lydia wusste, was das war. Es gab keinen Zweifel. Als sie und Chang damals in China voneinander getrennt worden waren, hatten sie am Eidechsenbach füreinander Nachrichten hinterlassen, und diese Botschaften hatten sie immer in einem Weckglas unter einer Steinpyramide verborgen. Das hier, so wurde ihr jetzt bewusst, war ihr neuer Eidechsenbach.
Sie ging in die Hocke, räumte schnell ein paar Steine weg und stieß auf ein kleines Ledermäppchen. Drinnen steckte ein Blatt Papier. In feiner schwarzer Druckschrift standen darauf fünf Worte: Am Ende der Uliza Semenow. Fünf Worte, die ihre Welt veränderten.
Nervös blickte sie sich um, doch alles war wie vorher. Eine junge Frau schob ihr Fahrrad neben sich her, ein älteres Paar streute Brotkrumen für eine Schar Spatzen. Lydia setzte die Steinpyramide wieder zusammen, wischte sich die Hände am Mantel ab und steckte dabei den Zettel tief in ihre Tasche. Ihre Hand schloss sich fest darum. Dann lief sie mit gleichmäßigen Schritten los, aber ihre Füße waren ungeduldig. Schließlich wurden ihre Schritte immer schneller, und bevor sie etwas dagegen tun konnte, hatte sie begonnen zu rennen.
Die Semenow-Straße befand sich in Flussnähe. Im südlichen Teil der Stadt gelegen, war die Gegend das genaue Abbild all der vielen kleinen Dörfer, die Lydia auf ihrer Fahrt quer durch Russland vom Zug aus gesehen hatte. Die Häuser waren schlicht, einfach nur eine Hand voll windschiefer Holzhäuschen unter moosbedeckten, vielfach geflickten Ziegeldächern.
Heute wimmelte es hier von Menschen. Ein Straßenmarkt nahm den größten Teil des Gehwegs ein, überall waren Matten mit Waren auf dem Boden ausgebreitet. Ein Stand bot sorgsam aufgestellte Reihen gebrauchter Stiefel feil, ein jeder mit den deutlichen Gebrauchsspuren seines vorigen Besitzers, daneben gab es Stände mit bunten Papierblumen und Eimer voller rostiger Haken und Beilegscheiben. Keiner der Händler besaß eine Lizenz. Wäre die Polizei aufgetaucht, um die Budenbesitzer zu kontrollieren, wäre der Markt schneller dahingeschmolzen als Eis auf der Zunge. Lydia war dankbar für das muntere Treiben. So konnte sie sich unbemerkt auf der Straße bewegen.
»Äpfel? Gute knackige Äpfel?«
»Njet.«
Eine Frau hatte ihr einen verschrumpelten Apfel unter die Nase gehalten. Lydia geriet in Versuchung, da sie nichts
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