Die Sehnsucht der Konkubine
der Ungewissheit, die wie ein Schatten zu ihren Füßen lagen, zu einem formlosen, undeutlichen Fleck wurden und an ihre Stelle etwas Leuchtendes, Helles trat. Es hätte das Sonnenlicht sein können, klar und funkelnd. Doch für Lydia fühlte es sich durchaus wie etwas an, das greifbar war. Es fühlte sich an wie Glück.
Sie verließen das Zirkusgelände und schlenderten durch den Straßenmarkt zurück, Arm in Arm wie ein ganz normales Paar. Dabei aßen sie die Äpfel, die Lydia gekauft hatte.
»Und nun verrat mir doch bitte, Lydia«, bat Chang, »hast du etwas Neues über deinen Vater herausgefunden?«
»Wir haben doch gesagt, keine Fragen.«
»Ich weiß.«
Er spürte, wie ein Zittern durch ihren Körper ging, doch er wartete geduldig.
»Wir sind zu dem Gefangenenlager gefahren«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »dem in der Nähe von Felanka, wo man ihn festgehalten hatte, aber …«
»Wir?«
»Ja. Liew Popkow, der Kosak, ist mit mir gekommen.« Sie schaute mit jenem winzigen Hauch von Amüsiertheit zu ihm hoch, der immer einen Punkt tief in ihm berührte. »Du erinnerst dich doch bestimmt an ihn.«
»Natürlich. Ist er hier in Moskau?«
»Ja. Er und eine Freundin von ihm teilen sich mit mir ein Zimmer.« Sie lachte. »Ist alles sehr kuschelig.«
Er musterte sie. Lauschte den Worten hinter den Worten. »Sowjetrussland«, sagte er, »hat seine eigenen Probleme. Bitte richte dem Genossen Popkow meine besten Grüße aus. Ich hoffe, sein Rücken ist immer noch so breit und stark wie der Fluss Peiho.«
Wieder musste sie lachen. »Ja«, sagte sie. »Liew ist so stark wie immer.«
Chang war dem großen Kosaken nur ein einziges Mal begegnet, obwohl begegnen eigentlich nicht das richtige Wort war. In China hatte Popkow den kranken Chang auf seinem Rücken durch die Straßen von Tschangschu geschleppt, damit Lydia ihn wieder gesundpflegen konnte. Die Erinnerung daran war nach wie vor ein dunkler Fleck, der ihn mit einem Gefühl der Scham erfüllte. Dass es der Beine eines anderen Mannes bedurft hatte, um ihn in Sicherheit zu bringen.
»Aber mein Vater ist nicht mehr in dem Lager«, fuhr Lydia fort. »Er ist nach Moskau verlegt worden. Alexej und ich haben uns in Felanka getrennt.«
»Alexej Serow?«
»Mein Halbbruder«, hob sie rasch hervor und biss in ihren Apfel.
»Ist Alexej Serow auch hier?«
»Er kam mit mir nach Russland, um mir bei der Suche zu helfen.« Sie trat absichtlich auf ein unberührtes Stück Schnee und hinterließ einen deutlichen Fußabdruck darin, als wollte sie selbst eine Spur auf der Welt hinterlassen. »Jens Friis war ebenso sein Vater wie meiner, du erinnerst dich.«
Sie ließ ihr Haar nach vorne fallen, um ihr Gesicht zu verbergen, und am liebsten hätte er es weggeschoben, um die Traurigkeit darin zu sehen. Was war das genau, was sie für ihren Vater empfand? Stattdessen blieb er stehen, hielt ihre Hand, und sogleich wandte sie sich ihm zu, die Lippen leicht geöffnet in einem kleinen Aufatmen der Überraschung. Er zog sie an sich. Irgendwo in einer armseligen Gasse dieser gesichtslosen Stadt standen sie mitten auf einem sonnenbeschienenen Fleckchen Erde, und er legte den Arm um ihre schmale Taille. Er zog sie so fest an sich, dass ihre Körper miteinander verschmolzen. Sie leistete ihm keinerlei Widerstand, obwohl die Menschen auf der Straße sie einen Moment lang neugierig anstarrten.
Er tippte mit seinem Finger mitten auf ihre blasse Stirn. »Meine Liebe«, murmelte er. »Hier drinnen«, er tippte abermals auf ihre Stirn, »bist du ganz allein. Hier drinnen sind wir alle allein. Du kannst dir nicht einen Vater in diesen Kopf hineinzwingen, den du nicht kennst, und einen Bruder, der bis vor Kurzem gar nicht wusste, dass es dich gibt. Und in dein Herz auch nicht. Eine Familie besteht mehr als nur aus Blutsbanden, sie besteht auch aus denjenigen, denen du vertraust. In China habe ich Menschen, die meine Familie sind, obwohl keine Blutsbande zwischen uns bestehen.«
Er sah, wie ihr die Kehle eng wurde, wie sich die zarten Knochen ihres Halses zusammenzogen, und empfand tiefes Mitgefühl für sie.
»Ich bin deine Familie«, gelobte er ihr leise.
Ihren Lippen entrang sich ein leiser, wortloser Laut, der ganz tief aus ihrem Innersten zu kommen schien. Ihre Augen wurden so dunkel, dass sie die Farbe von Winterregen annahmen, und sie beugte sich vor, schmiegte den Kopf in seine Halsbeuge. Er strich ihr zärtlich übers Haar, roch seinen vertrauten Duft, spürte, wie lebendig es
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