Die Sehnsucht der Konkubine
während sie darauf zugingen, ein Knallen wie von Peitschen, und ein Mann mit einer kurzen, wattierten Jacke und zerrissenen Gummistiefeln kam mit einem Holzhammer und einer Hand voll eiserner Heringe heraus. Er kniete auf dem Boden und begann, eine der Tauschlingen im vereisten Boden zu befestigen.
»Gibt es hier Tiere?«, fragte Chang ihn auf Russisch.
»Hinten.« Der Mann vom Zirkus blickte nicht auf.
»Spassibo.«
Die Frage überraschte Lydia. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sich Chang für Tiere interessierte. Als sie ihm daheim in China ihr kleines Kaninchen gezeigt hatte, hatte er es essen wollen. Bei der Erinnerung daran musste sie lächeln. Sie stiegen über die Abspannseile und folgten einem ausgetretenen Feldweg, der rund um das Zelt führte und bei einer Reihe von Zirkuswagen endete. Die Fahrzeuge waren großflächig und bunt mit Szenen aus dem Zirkus bemalt – ein Dompteur, der vor ein paar Löwen die Peitsche knallen ließ, eine Ballerina, die auf einem Pferd einen Kopfstand machte –, und obwohl die meisten Wagen verschlossen waren, war bei einigen die Plane zurückgeschlagen, um den Blick auf die Käfige dahinter freizugeben. Ein Absperrseil war wenige Meter vor den Käfigen aufgespannt, damit das Publikum sich den Tieren nicht allzu sehr näherte.
Jetzt sah Lydia den Grund. »Schau«, sagte sie. »Löwen.«
In einem der Käfige lagen träge zwei Löwinnen, die großen, breiten Köpfe auf die Vorderpfoten gelegt, die bernsteinfarbenen Augen halb geschlossen. Sie hatten ein Winterfell. Eine interessierte Gruppe von Zuschauern hatte sich vor dem Käfig versammelt, doch ein kleiner Junge versuchte seinen Vater zum nächsten Käfig weiterzuziehen. Lydia blickte Chang an. Auch seine Aufmerksamkeit galt dem nächsten Käfig, und in seinen schwarzen Augen lag dabei ein Ausdruck, den sie noch nie an ihm gesehen hatte, als würde er ausschließlich in diesem Moment leben. In dem Käfig sah sie ein riesiges Tigermännchen stehen, die Muskeln angespannt. Mit seinen gelben Augen starrte das Tier die Besucher trotzig an. Es war eine herrliche Kreatur. Als er die Zähne fletschte, gab er den Blick auf gewaltige Fänge frei, bei deren Anblick Lydia ganz flau im Magen wurde. Sie bemerkte, wie Chang einen Schritt näher trat.
»Gefahr zieht dich an«, sagte sie.
Sein Körper kam zum Stillstand. Sie sah es. Als hätte er ganz bewusst seinen Herzschlag verlangsamt. Er fuhr herum, um sie anzuschauen, und drehte dem Tier dabei den Rücken zu. Schließlich hob er eine Hand, zupfte eine von Lydias Locken unter der Mütze hervor und ließ sie durch seine Finger gleiten.
»Ich lege meine Hand nur ins Feuer, wenn ich muss, Geliebte.«
»Dass du nach Moskau kamst«, sagte sie, »und dich heute hierherwagtest, das kommt mir so vor, als würdest du nicht nur deine Hand ins Feuer legen, sondern deinen Kopf noch gleich dazu.«
Er schüttelte den Kopf, und seine schwarzen Augen wanderten zu dem Tiger zurück und blieben auf ihm ruhen. Lydia empfand Eifersucht auf das Tier.
»Ich kam hierher«, flüsterte er schließlich, »weil ich musste.«
»Weil Mao Tse-tung es dir befahl?«
Achte nicht auf die Worte.
Blitzschnell zuckte sein Blick zu ihrem Gesicht zurück. Es war ein Blick, der sie fast körperlich berührte, wie er über ihr Haar wanderte, über ihr Gesicht, die zarte Kurve ihres Ohres, die geschwungenen Linien ihrer Lippen.
»Ich kam«, sagte er noch einmal, »weil ich musste.«
Sie bedrängte ihn nicht weiter. Stattdessen schlang sie ihre Finger um die seinen. »Woher wusstest du, dass ich in Moskau bin?«
»Das wusste ich nicht. Ich wusste, dass du in Russland bist. Das genügte.«
»Russland ist groß, Chang An Lo«, sagte sie lachend. »Ich hätte überall sein können.«
»Aber du warst nicht überall. Du bist hier in Moskau, so wie ich auch hier bin.«
»Ja.«
Sie spürte, wie sein Griff fester wurde. »Die Götter kümmern sich um diejenigen, die sie lieben.«
Sie lächelte. »Nun, ganz sicher haben sie sich um mich gekümmert.« Sie hob eine Augenbraue. »Was hast du ihnen als Gegenleistung versprochen?«
»Ha! Meine Lydia!«, lächelte er, »Du kennst mich zu gut. Du hast Recht. Ich habe ihnen in der Tat etwas versprochen. Nämlich die Erde.«
Sie lachten beide. Der unterschiedliche Klang ihres Lachens – das ihre leicht und neckend, das seine tief, aber dennoch voller Vergnügen – vermischte sich zu einem einzigen Atemzug, der in der Luft hing. Sie spürte, wie etwas von der Spannung,
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