Die Sehnsucht der Konkubine
ich möchte, dass Du mich kennen lernst.
Was also soll ich Dir sagen? Dass ich Deine Haare geerbt habe, weißt Du schon. Was noch? Mamas Begabung am Klavier besitze ich nicht, doch ich habe flinke Finger, und mein Geist ist rege. Dennoch habe ich so meine Probleme, wenn ich über dieses neue System nachdenke, das wie ein Sturm über Russland und China hinweggefegt ist. Diesen Kommunismus. Ich bewundere seine Ideale, doch seine Unmenschlichkeit verachte ich. Stalin sagt, in einer Revolution könne man die Leute nicht mit Glacéhandschuhen anfassen, aber gewiss ist das Individuum immer noch wichtig. Du bist wichtig. Ich bin wichtig.
Was sonst ist wichtig in meinem Leben? Ich habe mal ein Kaninchen besessen, das Sun Yat-sen hieß. Das war mir wichtig. Ich habe einen Freund namens Chang An Lo – Du hast mit ihm gesprochen. Er bedeutet mir mehr als mein eigener Atem. Liew Popkow ist mein guter Freund, mehr als ein Freund. Und Alexej ist der Bruder, den ich mir immer gewünscht habe. Also kennst Du mich jetzt, Papa. Ich trage eine schreckliche Mütze, liebe Aprikosenknödel mit Zucker und die Bilder von Kandinsky.
Bitte erzähl mir von Dir. Sag mir, was Du denkst. Wie Du Deine Tage verbringst. Beschreib mir, woran genau Du arbeitest. Ich sehne mich danach, das alles zu erfahren.
Mit den allerliebsten Grüßen
Lydia
Jens küsste den Brief. Er küsste jedes einzelne Wort. Am liebsten hätte er Liew Popkow geküsst, wenn er gekonnt hätte. Der große Mann hatte den Brief abgeliefert und war gestorben. Jens hatte die Metallhülle unter dem Vorwand, sich die Schnürsenkel zubinden zu müssen, unter dem Sitz hervorgeholt. O Popkow, mein alter Freund. Erschossen und weggezerrt in einer Rolle Sackleinen. Wut scharrte in seinen Eingeweiden, während er im Halbdunkel in seiner Zelle auf und ab ging, doch seine Wut galt ebenso ihm selbst wie dem Kosaken.
»Babitski«, knurrte er die toten Mauern an, »ich hoffe, dafür schmorst du in der Hölle.«
Alexej liebte die Straßen von Moskau. Mancherorts wurden sie aufgerissen und vollkommen neue Verkehrswege gebaut. Reihen von individuellen Häusern und Läden wurden abgerissen, nur weil ein Architekt es so wollte, und riesige, mehrstöckige Gebäude wuchsen aus dem Boden wie eine neue Art gewaltiger Pilze. Im grauen Licht eines Winternachmittages saß er auf dem Rücksitz des Wagens und wusste, während er an all den Baustellen vorbeiglitt, dass er Zeuge einer sich verändernden Welt war. Es erregte ihn. Stalin setzte alles daran, die russischen Straßen zu erneuern und zu erweitern, doch das galt ebenso für den russischen Verstand.
»Maxim«, sagte er zu dem Mann, der neben ihm saß, »eine der Regeln der wory lautet doch, dass wir auf keinen Fall mit den Behörden zusammenarbeiten.«
»Natürlich nicht. Die Machthaber hier zerstören jegliche Hoffnung auf die Freiheit des Geistes. Die wory hingegen werden niemals das Knie vor einem Menschen außerhalb der Bruderschaft beugen. Deshalb haben wir auch Sterne auf die Knie tätowiert, die uns daran erinnern.«
»Wenn also die Geheimpolizei um zwei Uhr morgens vor deiner Tür steht und Informationen über eines deiner Mitglieder haben will, was dann?«
»Ich spucke auf ihre Stiefel.«
»Und landest in einem der Arbeitslager?«
Maxim lachte. »Da war ich schon.«
»Aber jetzt bist du älter.«
»Kränker, meinst du wohl.«
»Na gut, kränker.« Das Fleisch hing dem Mann grau und teigig von den Gesichtsknochen. »Du wärst besser zuhause geblieben. Du bist müde.«
Sie fuhren in einer alten Klapperkiste, was nicht gerade angenehm war, doch die geschmeidige Limousine, die gewöhnlich benutzt wurde, wenn Alexej Maxim Woschtschinski Gesellschaft leistete, war heute in der Garage geblieben, damit sie nicht erkannt werden konnten. Dieses Fahrzeug hier war neutral, es gehörte niemandem. Genauer gesagt, war es gestohlen.
»Wie weit noch?«, fragte Maxim Woschtschinski.
»Noch ein paar Meilen«, gab Igor vom Fahrersitz zur Antwort. Er hatte Schweißperlen im Genick. Er war nervös.
Alexej nickte Lydia zu. »Diese Route hier dauert länger. Aber sie ist sicherer.«
Sie sagte nichts. Seit sie sich auf den Weg gemacht hatten, hatte sie still in ihrer Ecke gehockt, störrisch und stumm. Das ärgerte Alexej. Er hatte sich Maxim gegenüber durchsetzen müssen, damit sie überhaupt in dem Auto mitfahren durfte, und ein wenig Höflichkeit wäre durchaus angebracht gewesen. An manchen Tagen, so wie heute, wurde er einfach nicht schlau
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