Die Sehnsucht der Konkubine
wollte. Stattdessen gebot er ihr zu schweigen, indem er den Finger an die Lippen legte, und sie schlichen vorsichtig weiter, Lydia direkt rechts hinter ihm, Igor bildete die Nachhut. Abrupt hörte der Wald auf, und innerhalb von nur wenigen Schritten war das Zwielicht einem schmierig weißen Himmel gewichen. Ein Gebiet von der Größe eines Dorfes war im Herzen des Waldes gerodet worden, und in der Mitte war eine rechteckige Fläche freigeräumt, die allerdings durch eine Backsteinmauer, die sich rund um das Gelände zog, vor neugierigen Blicken verborgen war. Zehn Meter hoch, war sie oben mit Stacheldraht bedeckt. Auch am Boden ringelten sich überall Rollen dieses tückischen Materials, wie schlafende, dornige Schlangen.
»Nicht sehr einladend«, flüsterte Lydia Alexej ins Ohr.
Er zog eine Grimasse. »Soll es auch nicht sein.«
»Und wie kommen wir rein?«
»Gar nicht.«
»Ich dachte, wir sind hier, um uns den Gebäudekomplex anzuschauen, den sie gebaut haben. Das hast du doch gesagt.«
»Das ist richtig.«
»Aber die Mauer verbirgt doch alles vor unseren Blicken. Ich kann nichts sehen.«
Er lehnte sich an einen der Kiefernstämme, und seine Silhouette schien mit der rauen Borke des Baumes zu verschmelzen. »Das wirst du schon«, versprach er.
»Zeit zu gehen, Lydia.«
Alexej blickte nach oben. Lydia saß immer noch etwa fünfzehn Meter über dem Boden auf einer der Kiefern und schaute aufmerksam durch das Zeiss-Fernglas. Sie sah klein aus, dort oben im Schatten der Baumkrone, und aus der Konzentration, mit der sie alles beäugte, schloss er, wie gerne sie noch dort oben geblieben wäre.
»Lydia«, sagte er leise, weil er wusste, wie weit Geräusche in der feuchten Luft getragen wurden.
Sie nahm widerwillig das Fernglas von ihren Augen. »Lass mich runter.«
Igor ließ sie so schnell an ihrem Seil ab, dass es Alexej wunderte, dass sie sich beim Aufprall nichts brach. Sie gab Igor das Fernglas zurück.
»Spassibo« , war alles, was sie sagte.
Igor hatte sie mit seiner Technik überrascht. Er hatte sich einen Lederriemen zwischen die Knöchel gebunden und ihn dann um einen der schmalen Baumstämme geschlungen, die etwas zurückgesetzt vom Waldrand standen. Indem er den Fußriemen ebenso einsetzte wie einen weiteren zwischen seinen Handgelenken, hatte er sich so gewandt wie ein Iltis den Baumstamm hochgehangelt, wobei seine plumpen, kurzen Beine eine unerwartete Kraft an den Tag legten. Lydia konnte nur noch mit offenem Mund staunen. Alexej hatte gelächelt. Die Technik hatte er schon in den Straßen von Moskau gesehen, denn so kletterte Igor an den Regenfallrohren von Wohnblocks nach oben. Nachdem er die Baumkrone erreicht hatte, hatte er ein Seil aus seinem Rucksack gezogen, es über einen der Äste geworfen und mithilfe einer Schlinge einen einfachen Flaschenzug gebaut. Damit hatte er Lydia hochgezogen und es ihr ermöglicht, über die Mauer zu schauen, wie Alexej es ihr versprochen hatte.
»Es ist ein Hangar«, sagte sie und hielt dabei ihre Stimme gedämpft.
»Ein riesiger.«
»Und was ist drin?« In ihren Augen schimmerte jetzt auch die Erregung, die er vorher vermisst hatte. Das war wieder die Lydia, die er kannte. »Und was glaubst du, wofür die Schuppen sind?«
»In den Schuppen wird alles Mögliche an Ausrüstung gelagert. Wir haben gesehen, wie sie irgendwelche Maschinenteile auf Karren rüber zu dem Hangar gerollt haben.«
»Draußen sind ein paar große Behälter. Was ist das?«
»Für mich sehen die aus wie Kerosintanks. Und der Backsteinschuppen rechts davon ist das Wachhäuschen.«
Sie nickte so heftig, dass ihr fast die Mütze vom Kopf gefallen wäre. Sie rückte sie wieder zurecht. »Das habe ich auch gesehen. Soldaten gehen da ein und aus, und Hunde ebenso.«
»Das ist eine interessante Anlage, die sie da gebaut haben. Eine weite Fläche, mitten im Wald und von allen Seiten durch Mauern geschützt, damit niemand sieht, was drinnen vorgeht. Was, zum Teufel, machen die da?«
»Vielleicht bauen sie ein neues Flugzeug?«
»Vielleicht. Aber Jens ist nicht …«
Ihre Finger krallten sich so fest um sein Handgelenk, dass sie sich regelrecht in die Haut bohrten, doch er bemerkte kaum den Schmerz. Ihr Gesicht war so weiß wie der Dunst, der sich um ihre Schultern gelegt hatte.
»Ich habe ihn gesehen«, flüsterte sie.
»Wen?«
»Ich habe Papa gesehen.«
»Nein, Lydia, Jens arbeitet sicher drinnen. Die dürfen bestimmt nicht nach Gutdünken draußen herumlaufen. Außerdem«, er
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