Die Sehnsucht der Konkubine
das Messer. Ohne einen Moment zu zögern, stieß er das Messer durch den Stoff seiner Hose in die Stelle an seinem Bein, an seinem Oberschenkel, wo sich bereits eine grobe Narbe befand. Ein Schwall Blut ergoss sich über den bleichen Muskel und tropfte ins Gras. Mit der Messerspitze pulte er etwas Kleines und Hartes aus der Wunde. Es war mit Blut bedeckt, doch als er es in den Mund nahm und wieder herausholte, war es sauber und glitzerte. Ein Diamant. Zu klein, um allzu viel wert zu sein. Selbst in einem solchen Kaff wie dem hier. Doch hoffentlich genug, um ihn nach Felanka zu bringen.
Es war das Letzte, was er besaß. Danach hatte er nichts mehr.
Er riss einen Streifen von dem Verband um seinen Bauch ab und verknotete ihn um seinen Oberschenkel. Die Wunde blutete noch, doch Alexej achtete gar nicht darauf. Ihm war der Schmerz willkommen, der mit jedem Schritt durch die Wunde fuhr. Er überdeckte jenen anderen Schmerz in seiner Brust, der ihn zu ersticken drohte, während er humpelnd auf das Dorf zuging.
»1908?«
»Ja, das stand da. Die Steine waren so gelegt, dass sie dieses Wort und diese Zahl bildeten. Njet und 1908. « Lydia zog die Stirn in Falten und wandte sich an Elena. »Ich verstehe nicht, was es bedeutet. Was ist 1908 geschehen?«
Während der ganzen Rückreise hatte sie sich das Hirn zermartert, was die Nummer wohl bedeutete. 1908. Doch wie gründlich sie auch ihr Wissen über russische Geschichte durchforstete, es wollte ihr nichts einfallen, was auch nur den geringsten Sinn ergab.
»1908?«, fragte Elena wieder. »Bist du sicher, es war nicht 1905? Das war damals der Auftakt der Revolution in St. Petersburg, mit dem sogenannten Blutsonntag. Vielleicht will er dir damit sagen, dass er in St. Petersburg ist?«
»Nein, es war definitiv eine Acht, keine Fünf. Da bin ich mir sicher. 1908.«
Sie waren bei einer Bude am Straßenrand stehen geblieben, die heiße piroschki verkaufte. Lydia streckte die verfrorenen Hände nach der Kohlenpfanne aus, um sich aufzuwärmen, und ließ dabei Popkows Rücken nicht aus den Augen, während sie darauf warteten, dass die kleinen Teigtaschen fertig wurden. Seit sie den Bahnhof verlassen hatte, hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden, gereizt wegen seines Schweigens, aber auch weil sie sich keinen Reim auf die Nachricht aus dem Lager machen konnte. Sie rieb sich die behandschuhten Hände, die von der Kälte ganz taub waren, und wandte sich an Elena. »Die Katastrophe von Tunguska, das war doch 1908, oder? Als dieser Komet über Sibirien explodiert ist.«
» Da , aber da sehe ich keine Verbindung.«
»Ich auch nicht, außer, dass damals Millionen von Bäumen gefällt wurden, genau wie die Gefangenen es jetzt machen.« Sie schaute die ältere Frau hoffnungsvoll an. »Ich dachte, vielleicht fällt dir noch was ein.«
Elena schüttelte bedauernd den Kopf. »Trotzdem muss es offensichtlich sein, sonst hätte man dir diese Botschaft nicht hinterlassen. Fällt dir irgendeine Verbindung zu dir selbst ein?«
»Nein, das war vier Jahre bevor ich geboren wurde.«
»Und deine Eltern?«
»Die waren damals nicht verheiratet, aber sie lebten beide in St. Petersburg. Denkst du, es bezieht sich auf etwas, das in jenem Jahr in St. Petersburg passiert ist?«
»Was zum Beispiel?«
Sie schauten sich ratlos an und schüttelten den Kopf.
Popkow nahm einen Bissen von seiner Pirogge und blies den beiden Frauen heiße Luft entgegen, als er ihnen jeweils eine der Teigtaschen hinhielt.
»Das ist kein Datum«, brummte er und wandte sich dem Verkäufer zu, um weitere Piroggen zu bestellen.
»Wie bitte?«, fragte Lydia.
»Wie ich gesagt habe.«
Sie tätschelte ihm den Rücken. »Was meinst du damit, es ist kein Datum?«
Er schaufelte sich eine weitere Teigtasche in den Mund. Wie schaffte er das bloß, ohne sich die Zunge zu verbrennen?
»Woher weißt du, dass es keine Jahreszahl ist?«
Popkow fuhr unbeholfen herum, und sie spürte, dass er immer noch wütend auf sie war. Sein Zorn knisterte in seinen Kleidern und nistete in seinem struppigen Bart. Sie hätte ihm gerne gesagt, dass es ihr leidtat, hätte ihm gerne versprochen, dass sie nicht mehr ausbüxen würde. Doch das konnte sie nicht.
»Sag’s mir, Liew«, bettelte sie. »Wenn 1908 keine Jahreszahl ist, was ist es dann?«
Er starrte sie finster an. »Wenn die Wachen im Gefängnis besoffen sind, plaudern sie so manches aus. Ich hab von ihnen von einigen Plätzen gehört, die so
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