Die Sehnsucht der Konkubine
lustig?« Zuerst gluckste Poliakow nur vor Vergnügen, doch als er den Gesichtsausdruck seines Gefangenen sah, brach er in Gelächter aus. »Welche Chance hat denn die Kleine, dich hier aufzuspüren?«
Welche Chance?
Jens wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen und hätte ihm seinen fetten Hals umgedreht. Er stand abrupt auf, und in dem Moment stand vor seinem inneren Auge plötzlich eine rote Lockenmähne. Ein anmutiges, herzförmiges Gesicht. Ein schelmisches Grinsen, das sein Herz in tausend Scherben zerspringen ließ. Lydia? Bist du das? Meine Lydia?
Konnte das wirklich sie sein?
Ihm brach der Schweiß aus. War seine Tochter am Leben? Nach all den Jahren, in denen er sie tot geglaubt hatte. Und seine Frau?
O lieber Gott, lass meine wunderschöne Valentina noch am Leben sein. Und meine kleine Lydia auch … Fast entrang sich ein Schluchzen seiner Kehle.
Zwölf karge, lange Jahre hatte er ohne sie gelebt, selbst ohne die Erinnerung an die beiden Menschen, die er auf der Welt am meisten liebte. Denn auch nur an sie zu denken, an ihr Lächeln und ihre glockenhellen Stimmen, hätte ihn zerstört. Und so hatte er zwölf einsame Jahre lang ohne Liebe und ohne Hoffnung gelebt. Erst als Poliakow so hinterhältig gesagt hatte: Sie sucht nach dir, war in ihm die Erinnerung an den Moment zurückgekehrt, als er sie verloren hatte.
Er sah noch einmal die Eiswüste Sibiriens vor sich, weiß und eintönig. Den grauen, mit Eis überzogenen Holzboden der Viehwagons, dicht bepackt mit Angst und Wut, während der Zug mit seiner Fracht aus fliehenden Weißrussen auf der Suche nach Freiheit durch Russland ratterte. Valentinas Atem auf seiner Wange, das Gewicht ihres schlafenden Kindes in seinen Armen. Dann kamen die Gewehre, die Männer zu Pferde, mit Hass in den Augen, die Schreie der Frauen und Kinder, als sie von den Bolschewiken aus dem Zug gerissen wurden. Kurz blitzten das Bild des Kommandanten der Roten Armee und sein erbarmungsloser Blick in ihm auf, als man die Männer zusammentrieb und wegbrachte, um sie zu erschießen. Valentinas riesige Augen, von Schmerz und Verzweiflung verzerrt. Lydias dünner, durchdringender Schrei. Und der Schrecken, der sich um sie herum ausbreitete.
»Valentina?«, flüsterte er.
»Wer, zum Teufel, ist Valentina?«, fragte Poliakow barsch.
Auf einmal hasste Jens diesen Wärter und verachtete ihn dafür, dass er diese Hoffnung in seinem Leben entfacht hatte. Die Hoffnung war tot. Es war schon lange her, dass er sie niedergemetzelt hatte wie ein vielköpfiges Ungeheuer, diese Hoffnung, denn sie hätte das Leben im Gefängnis unerträglich gemacht. Doch jetzt war sie von den Toten auferstanden, um ihn zu quälen. Der Bleistift in seiner Hand zerbrach.
NEUNZEHN
S ie ist nicht da.«
»Wann ist sie weg?«, fragte Alexej.
»Vor einer Weile.«
»Eine Woche? Ein Monat? Länger?«
Die Frau am Empfang schüttelte abweisend den Kopf. Es war eine stämmige Genossin, die ihre Arbeit ernst nahm. »Ich merke mir nicht alles, was die Leute machen, weißt du.«
Darauf würde ich nicht wetten. Ich schätze, genau das ist deine Aufgabe hier.
Doch sie würde ihm nicht mitteilen, was sie wusste. Und er konnte es ihr nicht verdenken. Er sah furchtbar aus und wirkte mit seiner schmutzigen Kleidung und dem unrasierten Gesicht nicht gerade Vertrauen erweckend.
»Ich bin ihr Bruder.«
»Und?«
»Ich wurde woanders aufgehalten. Ich dachte, sie sei immer noch hier in Felanka.«
»Na ja, ist sie nicht.«
»Hat sie denn etwas hinterlassen? Eine Nachricht vielleicht?«
»Njet.«
Alexej legte die Ellbogen auf den Tresen und beugte sich weit zu ihr hinüber. Er lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln. »Ich glaube schon, dass sie was hinterlassen hat«, sagte er tonlos.
Die Frau zögerte kurz. »Ich schau mal nach.«
Sie trat von dem Tresen zurück und förderte nach betont langem Wühlen in der Schublade schließlich tatsächlich einen Umschlag zu Tage. Darauf stand in großen, geschwungenen Buchstaben sein Name, Alexej Serow. Ihm wurde bewusst, dass er noch nie die Handschrift seiner Schwester gesehen hatte, obwohl sie doch schon so lange zusammen auf Reisen waren. Und die Schrift überraschte ihn. Es war eine kühne Schrift – doch das hätte er sich auch vorher schon denken können. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Weichheit dieser Schrift, die unsicheren Endungen der Wörter und die Sorgfalt, mit der sie das große S malte. Ach, Lydia. Wo, zum Teufel, bist du? Warum hast du
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