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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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von Erleichterung, der sich auf dem schmalen Gesicht ausmalte, war die Lüge wert.
    Der Regen hatte aufgehört; die Landschaft dehnte sich endlos in den Dunst hinein, trist und feucht. Alles sah anders aus. Wie sollte sie wissen, wann der Zug sich der Arbeitszone näherte? Die Landschaft war an sich schon eintönig, und ohne Punkte, an denen man sich orientieren konnte, war es unmöglich, zu erkennen, wo genau der Wald gerodet wurde. Der Dunst hatte alles verschluckt, wie ein grauer Dieb, der ihr die Hoffnung geraubt hatte.
    Lydia stand am Zugfenster, wischte mit den Fingern über die Stelle, wo ihr Atem die Scheibe beschlagen hatte. Die Arbeitszone musste irgendwo da draußen sein, irgendwo dort, da war sie sich sicher. Sie schaute aufmerksam hinaus, auf der Suche nach etwas, das auch nur im Entferntesten nach den zündholzähnlichen Wachtürmen aussah, doch alles, was zu sehen war, war eine dicke, träge Wolkendecke. Die roten Taschentücher, ihre leuchtend scharlachroten Vögel? Würden sie wenigstens sichtbar sein? Aber nein. Nichts durchbrach die farblose Monotonie dort draußen. Sie legte die Stirn an das Glas, spürte, wie die Vibrationen des Zuges in ihrem Gehirn weiterbebten.
    Sie schloss die Augen und dachte an Changs Worte zurück. Du musst dich konzentrieren, mein Liebes, bring die Teile zu einem Ganzen zusammen. Dann wirst du stark sein.
    Konzentrier dich.
    Sie öffnete die Augen, vergaß den Dunst und den Wald und konzentrierte sich auf den felsigen Untergrund neben dem Gleis. Ganze fünfundzwanzig Minuten lang ließ sie den Blick nicht abschweifen, sondern hielt ihn fest auf die wenigen Meter Boden gerichtet, durch den die Gleise verliefen. Ganz allmählich spürte sie, wie eine Veränderung in ihrem Denken eintrat. Es wurde leichter. Das Gewicht all der anderen Gedanken und Ängste glitt davon, bis nur noch eines da war: die Steine und die Erde, die vorbeirasten. Sie woben dunkle Linien durch ihr Denken.
    Und da war es. Das Zeichen.
    Sie blinzelte, und es war weg. Doch sie hatte es entdeckt und brauchte es nicht noch einmal zu sehen. Jemand hatte Steine zu einem Muster ausgelegt, genauer gesagt, zu Buchstaben, die ein Wort bildeten, und zu Zahlen. Das Wort lautete Njet . Und die Nummer war 1908.
    Njet . 1908.
    Lydia wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte.

SIEBZEHN

    A lexej erwachte in totaler Finsternis. Die Baumstämme auf dem Lastschiff knarrten, und er hörte das Klatschen der Wellen vor dem Bug.
    »Konstantin!«
    »Was ist los, mein Freund? Warte, bis ich ein Streichholz anzünde.«
    Eine Flamme loderte auf, eine Lampe zischte. In dem gelben Schimmer, mit dem sie den Raum erhellte, fiel Alexejs Blick auf die zerknüllten Decken auf dem Boden, und ihm wurde klar, dass Konstantin ihm seine Koje überlassen hatte. Der Schiffer war nackt, sein langer Rücken muskulös, blonde Löckchen kräuselten sich auf seinen Schenkeln. Er drehte sich um und schaute Alexej an, vollkommen ungeniert ob seiner eigenen Nacktheit, doch die blauen Augen blickten verschlafen.
    »Was ist denn, Alexej? Ein Alptraum?«
    »Nein. Wo ist mein Geldgürtel, Konstantin?«
    Die langen Wimpern blinzelten. »Geldgürtel? Was für ein Geldgürtel?«
    »Ich hab einen getragen, als ich …«
    »Mein Freund, ich bin kein Dieb.«
    »Das hab ich auch nicht behauptet.«
    »Aber so klingt es für mich.« Konstantin breitete seine wuchtigen Hände aus, als wollte er zeigen, dass er nichts darin verborgen hatte. »Als ich dich aus dem Wasser gezogen habe, warst du in einem schlimmen Zustand. Hast überall geblutet, deine Klamotten waren zerrissen und zerfetzt, aber einen Geldgürtel habe ich definitiv nicht gesehen.« Er gluckste leise vor sich hin. »Oder denkst du, den hätte ich nicht bemerkt?«
    Alexej ließ sich in das Kissen zurücksinken und schloss die Augen. »Tut mir leid, Konstantin. Bitte, schlaf weiter.«
    Im nächsten Moment ging das Licht aus. Alexej hörte, wie die nackten Füße des Schiffers auf ihn zutapsten, spürte eine Hand, die in der Dunkelheit über sein Haar strich und ganz sanft bis zu seinem Hals hinabglitt.
    »Wie alt bist du, Alexej?«, fragte Konstantin. Es war nur ein Flüstern.
    »Sechsundzwanzig.«
    »So jung. Und so … unberührbar.«
    Eine Stille, die so schwarz und zäh war wie Pech, senkte sich über den Raum, der zwischen den Männern klaffte. Alexej rollte auf die Seite und drehte dem Schiffer den Rücken zu, so dass dessen Hand herunterfiel.

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