Die Sehnsucht der Konkubine
geheim sind, dass die Behörden ihnen nicht mal Namen geben, sondern nur Nummern. 1908 ist einer davon. Ich hab schon davon gehört.«
»Und was ist es?«
»Ein geheimes Gefängnis.«
»Ein geheimes Gefängnis?« Lydias Gesichtszüge erstarrten.
» Da . Ich hab keine Ahnung, wo es ist, nur dass es irgendwo in Moskau liegt.«
Lydia packte ihn am Revers seines Mantels und drückte ihn an sich. »Dann werden wir dorthin fahren. Nach Moskau.«
ACHTZEHN
D as Schweigen. Die Stille. Die Eintönigkeit. Sie berauben dich. Stehlen dir dein Selbstwertgefühl.
In einem von mehreren hell erleuchteten Kellerräumen tief unter den Straßen von Moskau beugte sich ein großer Mann über einen Stapel Zeichnungen, die über seinem Schreibtisch verstreut waren, und fragte sich einen Moment lang, ob er tot oder lebendig war. Manchmal konnte er es nicht sagen.
Woche für Woche verging, und kaum ein Tag unterschied sich vom anderen. Das elektrische Licht wurde nie ausgeschaltet, und Dunkelheit war zu einem Luxus geworden, nach dem er sich sehnte. Er arbeitete, wann immer er es wollte, wann immer er die Konzentration dazu aufbrachte, ohne auf die Zeit oder an seine Umgebung zu denken. War es jetzt zum Beispiel Tag oder Nacht? Er hatte keine Ahnung. Er ließ den Messschieber aus seiner Hand fallen, der klappernd auf der Holzplatte des Schreibtisches landete, nur um ein Geräusch zu hören, das anders war als das Rauschen des Wassers in den heißen Wasserrohren, die sich an der Wand entlangzogen.
Er stützte das Kinn auf. Was machten andere Menschen? Aßen sie? Sangen sie? Oder, was am besten wäre, redeten sie? Er gestattete sich den Gedanken an die Welt über seinem Kopf, malte sich eine Stadt aus, in der der Schnee auf goldene Kirchenkuppeln fiel. In der die Geräusche gedämpft waren und es das leise Quietschen von gefetteten Kufen und die hoffnungsvollen Rufe von Straßenjungen gab, die Feuerholz feilboten und auf Schlitten durch die Straßen zogen.
Moskau war voller Leben. Es lebte, und es lachte. Er konnte den Teig in den Öfen riechen und die saure Sahne auf seiner Zunge schmecken, doch nur in seinen Träumen. In seinen wachen Stunden gab es nichts anderes als Schweigen, Stille und Eintönigkeit.
»Also hast du eine Tochter?«
Jens Friis gab keine Antwort. Er spitzte gerade einen Bleistift, als der Wärter mit seinen Schlüsseln rasselte, die schwere Gefängnistür aufschloss und mit einem Grinsen den Arbeitsraum betrat. Es war der Dicke, Poliakow. Der war nicht so schlimm. Besser als einige andere von den Scheißkerlen. Und dieser hier redete gern, obwohl er das nur tat, um die Gefangenen zum Reden zu bringen und sie hinter ihrem sorgfältig errichteten Schutzschild hervorzulocken. Jens machte das nichts aus. Er hatte großes Geschick darin entwickelt, die kleinen Sticheleien zu ignorieren und mit Kommentaren zu antworten, mit denen es ihm manchmal sogar gelang, seinen Wärter zu einem Gespräch herauszufordern.
Aber nun das. Also hast du eine Tochter. Das war etwas anderes.
Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück, einem gepolsterten Lehnstuhl, in dem er meistens seine Denkarbeit verrichtete, und ließ sich seine Überraschung nicht anmerken.
»Wie meinst du das, Poliakow?«
»Deine Tochter.«
»Da hast du was falsch verstanden. Ich habe keine Familie. Die sind alle während des Terrors 1917 verschollen.«
Der Wärter lehnte sich gegen den Türrahmen. Das Hemd spannte über seinem Bauch, und die runden, braunen Augen blickten amüsiert. Das war ein schlechtes Zeichen.
»Keine Tochter?«
» Njet« , wiederholte Jens.
»Bist du sicher?«
»Ja.« Doch das Herz blieb ihm fast stehen.
Poliakow zog eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie mit einem Streichholz an, das er dann auf den Boden fallen ließ, und nahm einen tiefen Zug, bevor er ein verschwörerisches Lächeln aufsetzte. »Was bringt das schon, mich anzulügen, Friis? Ich dachte, ich wäre dein Freund.«
Wenigstens wurden sie hier bei ihrem richtigen Namen genannt. Im Lager waren sie nur anonyme Nummern gewesen. Jens tat die Worte des Wärters als weiteren Versuch ab, ihn zu provozieren, und beschloss, nicht nach dem Köder zu schnappen.
»Besteht Aussicht auf eine Zigarette?«, fragte er stattdessen.
»Ich sag dir was, Friis, du wirst begeistert sein, das hier zu hören. Offenbar ist deine Tochter in deinem letzten Lager aufgetaucht. Jetzt guck nicht so schockiert. Sie sucht am falschen Ort nach dir, Tausende von Meilen von hier. Ist das nicht
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