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Die Sehnsucht der Konkubine

Die Sehnsucht der Konkubine

Titel: Die Sehnsucht der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Furnivall
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gab es keine Fenster. In dem Moment, in dem die Türen ins Schloss fielen, herrschte um die Gefangenen pechschwarze Finsternis. Jens legte die Hände auf die Knie und schloss die Augen. Er wusste genau, was ihm bevorstand, und er wappnete sich dafür, indem er sich auf seine Atmung konzentrierte und möglichst wenig Geräusche machte. Während der Lastwagen auf die Straße hinausrumpelte, spürte er, wie die Schwärze um ihn herum ihn mehr und mehr bedrängte. Ganz langsam und unaufhaltsam senkte sie sich über ihn herab, sie drückte wie Blei auf seine Haut und sickerte durch seine Augenlider, obwohl er sie fest geschlossen hielt. Seine Zunge lag wie festgeklebt in seinem Mund, und seine Lungen fühlten sich an, als würden sie unter dem Gewicht der Finsternis jeden Moment ihren Dienst einstellen. Er saß ganz still da. Atmete flach. Sein Herzschlag pulsierte in seinen Ohren.
    So war es nicht immer gewesen. Früher hatte er die Dunkelheit genossen, jene Intimität, die sie ihm inmitten der überfüllten Baracke im Arbeitslager bot, doch zu viele Wochen in der engen und unbeleuchteten Einzelzelle im Gefängnis hatten ihn dieser Gnade beraubt. Jetzt war die Dunkelheit sein Feind, und er focht diesen Krieg schweigend aus.
    Der Lastwagen hielt an, aber es war nur eine Straßenkreuzung. Moskaus Straßen waren voller unerwarteter Geräusche, die ihm nicht vertraut waren, Geräusche, die vor fünfzehn Jahren, als er zuletzt durch diese Straßen gestreift war, noch nicht existiert hatten. Nun sprang ihn ein einzelnes Geräusch aus der ihn umgebenden Dunkelheit an und zauberte ihm ein schwaches Lächeln auf die Lippen. Es war Musik. Das unverwechselbare Dudeln eines Leierkastens. Die heiteren Töne weckten tief in ihm eine Erinnerung und holten sie durch all die finsteren Kanäle seines Gedächtnisses ans Licht. Es war die Erinnerung an einen Tag, als er mit seiner vierjährigen Tochter einem schwarzhäutigen Leierkastenmann gelauscht hatte.
    Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, all die Erinnerungen an die Vergangenheit auszublenden und von Moment zu Moment zu leben, doch das Wissen, dass seine eigene Tochter irgendwo da draußen war und nach ihm suchte, hatte alle Regeln, die er für sich selber aufgestellt hatte, über Bord geworfen. In diesem Moment spürte er sie deutlich: Lydias kleine Hand, die ganz fest und sicher in der seinen lag, er hörte ihr Lachen, als sie das winzige Äffchen des Leierkastenmannes mit Erdnüssen fütterte. Dessen runzliges Gesicht hatte sie verzaubert, und sie den kleinen Affen auch.
    Der Lastwagen rumpelte über Schlaglöcher und schüttelte seine Passagiere auf den Metallbänken durcheinander, die sich auf beiden Seiten im schwarzen Inneren des Gefährts hinzogen. Die Musik wurde leiser, und auf Jens’ Lippen stahl sich ein Laut des Bedauerns, zart und kaum hörbar. War es ein Seufzen? Ein Ächzen? Vielleicht eine Mischung aus beidem. Oder nichts davon. Die kostbare Erinnerung schwand dahin.
    Finger berührten ihn. Sie strichen ganz sanft über die Knochen seiner Hand und versetzten ihm einen kleinen Klaps auf seine Handgelenke, als wollten sie ihn wecken, und dann schlossen sich die Finger um die seinen, hielten sie fest. Blieben so. Es war Olga. Sie saß ihm gegenüber im hinteren Teil des Lastwagens. Er hob eine ihrer Hände an seine Lippen, atmete tief den immer leicht chemischen Geruch ihrer Haut ein und küsste sie sanft.

ACHTUNDZWANZIG

    A ls Lydia aus dem Restaurant trat, bemerkte sie nicht einmal, dass es regnete. Aus den dicken Fallrohren, die überall an den Fassaden der Moskauer Gebäude verliefen und etwa einen Meter über dem Bürgersteig endeten, als wäre den Klempnern das Material ausgegangen, rauschte das Regenwasser in einem wilden Schwall über die Füße der Passanten. Bei Nacht gefror es dann. Die Bürgersteige wurden zu kompakten Eisflächen, und Lydia hatte es gelernt, genau darauf zu achten, wo sie hintrat. Plötzlich wurde über ihrem Kopf ein Regenschirm aufgespannt, schwarz und schimmern. Erst in diesem Moment bemerkte sie den Niederschlag.
    » Spassibo , Dmitri.« Sie lächelte zu ihm empor. »Und danke für das Mittagessen.«
    »War mir ein Vergnügen. Ich habe deine Gesellschaft sehr genossen.«
    Sie standen miteinander in der notgedrungenen Intimität des Baldachins, den der Schirm über ihren Köpfen bildete, so nah, dass ein jeder den nassen Mantel des anderen riechen konnte. Einen Moment lang versenkten sie die Blicke ineinander, und Lydia wusste nicht,

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